Prophezeiung der Seraphim
Frau verkaufte Fettkringel, die sie an einer Stange trug, der köstliche Geruch stieg Julie in die Nase und erinnerte sie daran, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte. Ein Lakritzwasserverkäufer, sein Reservoir aus Weißblech auf den Rücken geschnallt, auf dem Haupt einen Blechhelm mit Federbusch, drängte sich an ihnen vorbei und rief: »Erfrischt euch, Leute! Lakritzwasser macht einen kühlen Kopf in heißen Zeiten!«
»Wenn man noch einen Kopf hat!«, rief ihm ein Guckkastenmann zu, dessen Schild für einen Sou einen Blick auf die »Weltwunder der Geschichte« versprach.
Julies Magen schnürte sich zusammen. Wie unbeschwert die Leute waren, nicht ahnend, dass vor der Stadt schon die Soldaten warteten, um jeden Widerstand gegen den König zu beenden. Wenn es dem Erzengel gelang, seinen Plan durchzuführen, würden all diese Leute, die jetzt noch feierten, zu Sklaven der Seraphim werden. An die Herrschaft der Bourbonen, die sie jetzt verdammten, würden sie sich dann als ein Goldenes Zeitalter erinnern. In diesem Augenblick, inmitten der feiernden Menge auf der Place de Grève, begriff Julie, dass es um viel mehr ging, als nur um sie selbst und ihren Wunsch nach Rache. Sie hatten inzwischen den Platz überquert, aber Julie drehte sich noch einmal um und sah zurück, und auf einmal erschien jeder Einzelne dort eine Hoffnung, eine Erwartung und ein Versprechen für die Zukunft zu sein. Diese Menschen waren Paris. Und sie selbst gehörte zu ihnen. Es lag an ihr, all diesen Menschen um sie herum eine furchtbare Zukunft zu ersparen.
Sie straffte sich und folgte Nicolas, der sie nun an einem imposanten Gebäude mit zwei hohen Einfahrten vorbeiführte, das hoch über ihnen in die Dunkelheit ragte. Hinter den Fenstern flackerte Licht und man sah Schatten hin und her eilen.
»Was ist das für ein Haus?«, fragte Julie.
»Das Rathaus. Heute wurde der Präsident der Nationalversamm lung zum Bürgermeister ernannt, deshalb sind all die Leute hier.«
»Hoffentlich wird er die Pariser davon abhalten, weiter Leute an Laternen aufzuhängen«, sagte Julie.
»Daran hege ich leise Zweifel«, erwiderte Nicolas. »Das große Abschlachten steht der Stadt erst noch bevor.«
Sie ließen das Rathaus links hinter sich und gelangten zur Anlegestelle. Das Wasser der Seine glänzte schwarz, und Julie hörte, wie Bootsrümpfe aneinanderschlugen. Am anderen Ufer erhoben sich prachtvolle, lang gestreckte Fassaden, überragt von zwei wuchtigen, quadratischen Kirchtürmen. »Ich wusste gar nicht, wie schön Paris ist«, flüsterte sie.
»Das ist die Isle du Palais.« In Nicolas’ Stimme lag ein Lächeln. »Das da hinten ist die schönste Kirche der Stadt, sie heißt Notre Dame. Eines Tages zeige ich sie dir.«
Sie gingen nicht hinunter zum Fluss, sondern bogen auf die Uferstraße ein und überquerten die erste Brücke zur Flussinsel hinüber. Immer wieder legte Nicolas den Kopf in den Nacken und suchte den Nachthimmel ab. »Es ist unser Vorteil, dass ganz Paris heute Nacht auf den Beinen ist«, stellte er fest. »In dem Gewühl werden selbst die Cherubim Mühe haben, uns zu erspähen.«
Schweigend eilten sie über den Petit Pont , die kleine Brücke, und passierten das Chatelet , ohne von Posten angehalten zu werden. Julie war froh, dass Nicolas sich in der Stadt auskannte, sie selbst hätte sich verirrt bei dem Versuch, alleine nach St. Marcel zurückzufinden.
Nach einer halben Stunde erreichten sie die Abtei St. Geneviève. Von da an setzte sich Fédéric an die Spitze und führte die kleine Gruppe die Rue de la Cléf hinauf, und kurz darauf huschten sie die Mauer des Friedhofs entlang, der zum nahe gelegenen Hospital gehörte. Fédéric brachte sie zu einem Gatter, fasste nach innen, schob den Riegel beiseite und ließ sie eintreten.
»Würdest du uns bitte erklären, was wir auf einem Friedhof suchen?« Nicolas’ Stimme klang gereizt. Offensichtlich gefiel ihm nicht, dass Fédéric die Führung übernommen hatte.
»Mein Onkel ist Totengräber«, erklärte Fédéric, während er den Riegel hinter ihnen wieder vorlegte. »Er hilft, die Knochen in die unterirdischen Steinbrüche zu bringen, weil der Friedhof geschlossen werden soll. Da unten sind wir sicher, und es gibt ein Netz aus Gängen, von denen einige aus der Stadt hinausführen.«
»Und du kennst dich dort aus?«, fragte Ruben.
Fédéric musste zugeben, dass er selbst noch nie in den Katakomben gewesen war. »Aber mein Onkel hat mir erzählt, dass man sich
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