Prophezeiung der Seraphim
gerissen.
»Da!« Er würgte und wich noch weiter zurück. »O Gott, ich bin reingetreten!«
»Was ist da? Etwa eine Spinne?« Fédéric leuchtete mit seiner Laterne in die Ecke, in die Ruben gedeutet hatte. Als das Licht auf das fiel, was dort lag, schnappte er nach Luft. Julies Magen hob sich. Auf dem Boden häuften sich menschliche Körperteile, manche bis auf die Knochen abgenagt, manche nur angefressen, glasiert mit getrocknetem Blut. Der matschige Haufen aus Fleisch und Knochen wimmelte von Maden und stank unerträglich.
»Rizinus und Mäuseköttel«, flüsterte Fédéric. »Wer tut so was?«
»Die da«, antwortete Nicolas trocken. Der Schein seiner Fackel glitt über die Nischen, und erst jetzt bemerkte Julie, dass diese nicht leer waren. Sie sah dunkle Schnauzen und ledrige Flügel, eine Masse von Leibern.
»Das sind ja Riesenfledermäuse«, sagte sie, doch im selben Augenblick erkannte sie, dass das nicht stimmte. Diese Wesen besaßen menschliche Körper – es waren Cherubim. Doch sie waren viel kleiner als Dazaar, wahrscheinlich reichten sie ihm gerade bis zur Hüfte. Sie fiepten leise im Schlaf und zogen die Flügel über die Augen, wenn das Licht sie streifte.
»Hier wachsen sie also heran«, flüsterte Nicolas. »Und offensichtlich sorgt meine Mutter dafür, dass sie genügend Futter bekommen.«
Julie hatte das Gefühl, der Boden geriete ins Schwanken. »Lasst uns gehen, schnell«, ächzte sie.
»Das finde ich auch«, presste Fédéric zwischen den Zähnen hervor, während er sich rückwärts zum Eingang bewegte. »Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass sie nur Kadaver fressen.«
»In die andere Richtung«, zischte Nicolas. »Wir müssen hier durch, sonst kommen wir nicht weiter!«
Aber Julie konnte keinen einzigen Schritt machen. Die Vorstellung, durch den schmalen Korridor zwischen den vollbesetzten Nischen entlangzulaufen, jagte ihr ein entsetzliches Grauen ein. Wieder sah sie die zerfleischten Körper von Gabrielle und Jaques vor sich. Beinahe hätte sie aufgeschrien, als etwas ihre Finger berührte. Es war Nicolas.
»Wir gehen zusammen«, sagte er und nahm ihre Hand.
Sie konnte kaum nicken, so steif war ihr Hals, aber sie folgte ihm. Schritt für Schritt schoben sie sich an den Cherubim vorbei, die ihre Anwesenheit zu spüren schienen und sich im Schlaf regten. Fédéric ging mit abgeblendeter Laterne vor Julie und Nicolas, Ruben musste hinter ihnen sein. Der Leichengestank verflog etwas und wurde abgelöst von einem muffigen Geruch, den die jungen Cherubim ausdünsteten.
Ungefähr nach der Hälfte des Weges geschah es: Ruben stieß einen Fluch aus, seine Laterne flog an Julie vorbei und schepperte über den Boden, Glassplitter spritzten in alle Richtungen. Er musste gestolpert sein. Sofort erfüllte ein vielstimmiges Kreischen die Luft und Julie spürte den Luftzug zahlloser Flügel, als die Cherubim erwachten.
»Lauft!«, schrie Nicolas und zog Julie mit sich. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Ruben sich aufrappelte, während vor und hinter ihm die hundeköpfigen Ungeheuer aus ihren Schlafnischen schossen.
Fédéric schwenkte seine Laterne gegen die Cherubim und bahnte ihnen so einen Weg, doch Julie fühlte, dass sich die Woge aus Leibern und Flügeln dicht hinter ihnen sofort wieder schloss.
»Ruben ist noch hinter uns!«, rief sie durch das Getöse, aber Nicolas zerrte sie weiter voran.
»Schnell! Sonst kriegen sie uns auch!«
Sie erreichten den Durchgang, wo Fédéric erneut seine Laterne schwenkte, doch die Cherubim folgten ihnen immer noch. Ihr helles Kreischen bohrte sich in Julies Ohren.
Zu dritt hetzten sie weiter, bogen in immer engere Gänge, ohne zu wissen, wohin diese führten. Vage fürchtete Julie, dass sie nie mehr hinausfinden würden, selbst wenn sie den Cherubim entkommen sollten. Als sich der Gang endlich zu einem Gewölbe mit Stützpfeilern weitete und sie gerade durch den Torbogen gehuscht war, wurde ihr Kopf an den Haaren zurückgerissen und ein Cherub landete auf ihrem Rücken. Spitze Krallen bohrten sich in ihre Kopfhaut und sie schrie vor Ekel auf, konnte aber das Wesen nicht abschütteln. Nicolas packte sie an den Oberarmen und stieß sie gegen die Wand, um den Cherub abzustreifen, während Fédéric herumliegende Steinbrocken aufklaubte und den nachdrängenden Cherubim entgegenschleuderte.
Knöchelchen knackten, dann löste sich der Griff des Miniaturungeheuers. Julie war frei, doch zahllose andere drängten nun voran und
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