Prophezeiung
inzwischen gewöhnt. Man wünschte ihr einen angenehmen Abend, man scherzte, sie solle sich zwischendurch mal die Beine vertreten, man wies sie darauf hin, das Leben bestehe nicht nur aus Eiskernen, sondern auch aus gelegentlichen Eiswürfeln in entspannenden Drinks – sogar am IICO –, und sie lächelte freundlich zurück.
Um kurz nach acht war sie allein.
Um halb neun winkte sie Ruben zu, dem Wachmann, der seinen Kopf vom Flur aus in das Großraumbüro steckte, und als die Tür ins Schloss zurückgefallen war, streckte sie einmal die Hände durch und rief den Prometheus -Startbildschirm auf.
Passwort.
Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Das System würde jeden fehlgeschlagenen Log-in-Versuch protokollieren und Beck bei nächster Gelegenheit darauf hinweisen, selbst wenn er gar nicht danach suchte. Sie hatte nur einen Versuch.
Acht Klicks. Acht Buchstaben.
Das konnte natürlich alles Mögliche sein, aber sie hatte ein paar Anhaltspunkte, dank ihres Seitenblicks durch den eigenhändig manipulierten Haarvorhang. Kein Finger auf den Zahlentasten. Dreimal der kleine Finger der linken Hand, weit außen und unten auf der Tastatur, dreimal die gleiche Taste: X, Y, A oder S, X und Y kamen kaum infrage, sofern es sich, wie sie hoffte, um ein sinnvolles Wort handelte. Es blieben also entweder drei A oder drei S, zwei davon am Wortanfang, nur durch einen Buchstaben getrennt. Und Mavie hatte sich entschlossen, das Naheliegendste einzugeben – das Naheliegendste für einen Rollkragenpulloverträger, der nicht Sartre gelesen hatte, sondern Camus, der sich humorlos durch Datengebirge in Richtung seines fernen Nordsterns vorwärts mühte und seinen Boss überredete, ein Hi-End-Prognose-Programm nach einer mythologischen Griechengestalt zu benennen.
Sie gab die acht Buchstaben ein, langsam, um sich nicht zu vertippen, hielt die Luft an und drückte auf Enter.
Das Passwortfenster löste sich in Luft auf.
Sie war drin. Mühelos. Sisyphos sei Dank.
Sie sah sich um, erinnerte sich dann selbst daran, dass sie nichts Verbotenes tat, und studierte die zahlreichen Navigationselemente auf dem Schirm. Sie ließ den Mauszeiger wandern, nach oben, und wunderte sich nicht, dass dort oben weitere Navigationselemente aufklappten – die Prometheus -Oberfläche war nichtschlicht und sachlich wie die der meisten Prognoseprogramme, sondern fast so elegant wie die eines Apple-Rechners. An Manpower schien es dem IICO also nicht zu mangeln.
Forecast F.
Mavie ließ den Cursor für einen Sekundenbruchteil über dem Button stehen. Ein Button, der nur als Wegweiser diente? Das glaubst du doch wohl selber nicht, Beck.
Ihr Zeigefinger klickte auf die Schaltfläche, und im nächsten Augenblick machte die elegante Oberfläche Platz für eine wesentlich nüchternere Variante. Graustufen statt Farben, nur noch eine grobe grafische Darstellung der ausgewählten Region und eine Typo sans serif in den Menüs. Schmucklos, wie es sich gehörte für ein statistisches Programm. Prometheus bat um Ort und Datum für seine Zukunftsprognose.
Mavie gab Hamburg ein. 16. Januar. Das Wetter von morgen. Prometheus spuckte wenig Überraschendes aus. Regen. Vierzehn Grad. Windstärke drei. Sie ließ den Mauszeiger auf die rechte Menüleiste wandern und wunderte sich, dort doch noch einen vergleichsweise eleganten Mouse-over-effect vorzufinden. Unter den etwa zwanzig untereinander angeordneten Kürzeln für Sonne, Wind, Gaskonzentration, Luftdruck, Wolken und diverse andere, überwiegend kryptische Variablen erschienen jeweils weitere Kürzel, mal wenige, insbesondere bei den Treibhausgaskonzentrationen, was Mavie verwundert zur Kenntnis nahm, mal mehrere Dutzend, insbesondere unter dem Kürzel Sol und dem Kürzel C, das offensichtlich für Clouds stand, Wolken.
Mavie verstand nicht, was genau Prometheus diesbezüglich rechnete oder zu rechnen meinte, aber dass das Programm überhaupt Werte für die Menge und Zusammensetzung der lokalen Wolkendecken angab, musste ohnehin ein Insiderscherz sein, eine Simulation ohne tieferen Sinn. Niemand verstand die Wolken. Und niemand konnte ihr Verhalten vorhersagen. Wasserdampf war, trotz des angenehmen Klangs, fraglos ein entscheidender Faktor für die Erwärmung oder Abkühlung der unter ihm liegenden Ozeane und Landmassen, denn Wasserdampf machte mehr als 75 Prozent der Partikel aus, die in der Atmosphäre und Stratosphäre Treibhauseffekte verursachten. Da jedoch niemand in der Lage war, Wolken zu vermessen, geschweige
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