Prophezeiung
Wetter. Keinen Regen. Dafür aber Tageshöchsttemperaturen zwischen 26 Grad Ende Januar und mehr als 32 Grad Ende März. Sowie weniger CD als für die Städte im Norden.
Mavie dachte an Thilo und Camus und gab Algier ein.
Und während sie sich durch die Tage des neuen Jahres klickte und die CD -Zahl rapide hochschnellen sah, begann sie zu ahnen, was das sachliche Kürzel bedeutete. Nur glauben wollte sie es nicht.
Sie wechselte von Algier nach Tripolis, nach Teheran, nach Neu-Delhi, nach Peking. Die CD -Zahl wurde größer und größer und sprengte ab Ende Februar den vorgesehenen Rahmen, sodass Mavie im Datenfeld von rechts nach links scrollen musste, um die Zahl des jeweiligen Tages ganz sehen zu können. März, April, Mai. Stabil hohe Zahlen. CD .
Und dann löschte sie den letzten Ortsnamen, den sie eingegeben hatte, Sao Paulo, und ließ das Feld leer. Gab wieder den 30. Januar ein und betätigte die Enter-Taste.
Prometheus zeigte ihr die Erde. Nicht blau und grün in ihrer ganzen Schönheit, sondern grau in grau mit grob animierten Hoch- und Tiefdruckgebieten darauf, mit hell- und dunkelgrauen Niederschlagsmengen. Viel tiefes Dunkelgrau über der Nordhalbkugel. Ein weißer Streifen rund um den Äquator.
Mavie klickte sich durch den Februar, den März, mit zitterndem Zeigefinger.
Und sah, wie die CD -Zahl größer und größer wurde. Das Programm warf keinen kumulierten Wert aus, sondern nur erbarmungslose Zahlen für den jeweiligen Tag, aber Mavie überschlug im Kopf, dass das Programm bis Ende Mai einen CD -Wert von mehreren Hundert Millionen auswarf – und sie war fast erleichtert, dass sie sich geirrt hatte, geirrt haben musste.
CD konnte nicht für Collateral Damage stehen.
Prometheus musste etwas anderes meinen. CD musste irgendetwas anderes bedeuten, einen obskuren Fantasiewert beschreiben wie SHR – nur dass CD eben nicht im Dezimalbereich anstieg wie SHR , sondern offenbar ganz neu entstand, der Prognose nach. Selbst wenn das Programm offensichtlich vorhersagte, dass es bei außergewöhnlich hohen globalen Temperaturen im Norden durchgehend heftig regnen würde, während der Süden und erst recht die Äquatorialregionen offenbar keinen Tropfen Wasser abbekommen sollten – Prometheus konnte nicht 400 Millionen Tote prognostizieren.
Nie im Leben.
Er musste sich irren.
Sie musste sich irren.
Sie schüttelte den Kopf.
All das konnte keine Prognose sein. Schon gar nicht für einen so langen Zeitraum. Kein Programm konnte das leisten, auch kein Prometheus .
Andererseits – das ließ sich überprüfen.
Sofern sie die alten Prognosen nicht aus den Forecast-Sim -Archiven gelöscht hatten. Sofern es solche Archive gab.
Sie probierte es, indem sie das Datum eingab, an dem sie auf La Palma eingetroffen war. Prometheus spuckte artig seine alten Prognosedaten aus.
Sie öffnete ein neues Fenster, diesmal ein Browser-Fenster, durch das sie ins Web schauen konnte, in ein allgemein zugängliches Archiv des deutschen Wetterdienstes.
Sie verglich die Daten mit denen, die Prometheus prognostiziert hatte.
Sie klickte sich nach links, rückwärts, auf beiden Seiten. Ließ den Blick zwischen den beiden Fenstern hin und her springen. Wechselte die Städte. Kopenhagen. London. Peking.
Und spürte den Kloß in ihrem Hals größer und größer werden.
Die archivierten Prognosen entsprachen exakt den Werten, die dann auch tatsächlich gemessen worden waren.
Sie klickte sich weiter zurück, rasch, in den November des Vorjahres.
Das war nicht möglich. Prometheus sagte schon seit Monaten zuverlässig das richtige Wetter voraus? Für wie lange im Voraus?
»Señorita?«
Mavie zuckte zusammen, als hätte man ihr ein Stromkabel inden Nacken gedrückt. Sie fuhr herum und sah in das vergrätzte Gesicht von Enrique, dem Wachmann, der Ruben jeden Abend um 22 Uhr ablöste – und sie schon an den Abenden zuvor, die sie allein in dem großen Büro verbracht hatte, jedes Mal angesehen hatte wie eine Einbrecherin. Das tat er auch diesmal, allerdings anders als sonst nicht aus dem Türrahmen, sondern aus höchstens einem Meter Entfernung.
Sie hatte ihn nicht näher kommen hören.
»Enrique«, sagte sie und brachte ein Lächeln zustande.
Der Wachmann sah an ihr vorbei. Auf den Schirm. Er wirkte nicht sonderlich intelligent, aber dass sie keine Eiskerndaten abglich, war offenbar sogar ihm klar.
»Ich bin … gleich fertig«, sagte Mavie und brachte ein umso breiteres Lächeln zustande. »Ich melde mich dann bei Ihnen
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