Prophezeiung
dem Hafenbecken zogen, Tag und Nacht. Mavie dachte an die gallertartige Plage, unausrottbar seit nun fast zwei Jahren, und schauderte. Von allen Elementen konnte sie mit Wasser am wenigsten anfangen. Mit bewohntem Wasser erst recht nichts, und doppelt und dreifach nichts, wenn die Bewohner keine richtigen Tiere waren, sondern bloß willenlos im Strom schaukelnde Feuerquallen.
So gesehen war das Hafenbecken doch der richtige Anblick zum Abschiednehmen.
Und auf La Palma gab es keine Quallen. Behauptete jedenfalls Google. Schon gar nicht craspedacusta virulenta, die sonderbare Kreuzungslaune der Natur, die sich seit nun fast zwei Jahren im süßen und zu warmen Elbbrackwasser heimisch fühlte. Auf La Palma gab es angeblich nicht einmal Mückenplagen. Und keine Zeckenplagen. Dafür, wie im Norden, jede Menge Spinnen, aber die störten Mavie nicht.
Sie wandte sich vom Hafenbecken ab und sah durch das große Panoramafenster in die Penthousewohnung über den Dächern der Stadt. Das neue Zuhause von Helens großem Bruder Philipp. Noch nicht ganz fertig eingerichtet. Zwischen Kamin und Designersofas standen noch immer etliche Umzugskartons an den Wänden, aber für ein Abschiedsfest war der große Raum mit der offenen Küche wie gemacht. Sie hatte sein Angebot dankend angenommen.
Und er hatte offensichtlich sogar die Fensterputzer bestellt, zur Feier des Tages, denn vor der Scheibe hingen höchstens zwanzig Spinnen. Die dicksten Exemplare in der Mitte, in den größten Netzen, die kleinsten an den Rändern, im Halbschatten, wohin sich nur die allerdümmsten Opfer verflogen.
Die Terrassentür rollte leise murmelnd nach links, und als Mavie den Kopf wandte, sah sie Daniel auf sich zukommen. Daniel, der Spinnen erklärtermaßen hasste wie die Pest.
»Hey.«
»Hey.« Er trat mit einem raschen Schritt auf die Holzterrasse und blieb neben ihr stehen. »Wir sind fertig.«
»Ich komme gleich.«
»Wir sind doch wohl interessanter als diese … Viecher.«
»Ich brauchte nur mal zwei Minuten frische Luft.«
Daniel nickte und atmete tief ein. »Verstehe. Mit ein bisschen Algen drin. Und Öl.«
»Vergleichsweise frisch.«
Wieder nickte Daniel und strich sich über die kurz geschorenen Haare. Es stand ihm, aber sie vermisste immer noch seine Studentenfrisur, die lange Surfermatte, an die sie sich im Lauf der gemeinsamen Jahre gewöhnt hatte. Sie war regelrecht schockiert gewesen, als er vor einem halben Jahr plötzlich keine Haare mehr gehabt hatte.
»Toller Blick.«
Sie nickte.
»Was macht der Typ? Helens Bruder?«
Mavie zuckte die Achseln. »Soweit ich weiß, nichts.«
»Ziemlich schicke Bude für einen Arbeitlosen.«
»Er hat wohl genug verdient.«
Sie wusste es selbst nicht genau. Helen hatte es ihr irgendwannerzählt, aber sie hatte nicht richtig zugehört. Irgendeine Community zu Zeiten des Web 1.0, vor mehr als fünfzehn Jahren, die Philipp gegründet und die man ihm für sagenhaft viel Geld abgekauft hatte.
Sie sah Helen durch den großen Raum auf die Wohnungstür zugehen.
»Kannst ihn ja selbst fragen«, nickte sie an Daniel vorbei.
Beide traten in den großen Raum. Mavie zog die Terrassentür hinter sich zu und sperrte das Geräusch des Regens aus.
Philipp von Schenck ließ den iAm in seiner Jacketttasche verschwinden, mit dem er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, und begrüßte seine Schwester mit einer Umarmung. »Na, alles gut?«
»Alles prima. Bis auf deine blöden Kisten. Was machen die Banker?«
»Das Übliche. Nicht genug aus meinem Geld.«
»Ach, Geld. Gib mir Skandale, kein Geld.«
»Um die Zeit? Ich hab dir doch gesagt, du sollst nach Mitternacht nicht arbeiten, das macht einen ganz komischen Eindruck.« Er bemerkte Mavie und trat lächelnd auf sie zu. »Hey, Prinzessin, schon alles vorbei?«
Sie nickte und lächelte, und er begrüßte sie mit einem angedeuteten Kuss auf die Wange. Er roch gut, wie üblich, und er war perfekt rasiert, frisiert und gekleidet. Wie üblich. Dunkelgrauer Anzug, maßgeschneidert, das Diesel-Hemd über der Hose, dazu Budapester, ebenfalls maßgefertigt. Seine graublonden Haare waren deutlich länger geworden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatten und reichten ihm inzwischen bis fast auf die Schultern, aber der spöttische Blick war derselbe geblieben.
Er sah wieder Helen an, gespielt vorwurfsvoll. »Da denkt man, jetzt fängt die Party erst richtig an und alle schönen Single-Frauen haben inzwischen zwei Glas Champagner im Kopf, und dann versteckt ihr die vor
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