Prophezeiung
verbissener Sprung in ein neues Projekt, das Projekt Tochter.
Er hatte seine Sache gut gemacht, fand Mavie. Es war anstrengend gewesen mit ihm, manchmal, aber sie hatte in ihrer Kindheit und Jugend weit mehr Zuwendung, Liebe und Förderung erfahren als alle anderen Menschen, die sie kannte. Sie wusste, dass sie ihn vermissen würde, seine Nähe. Die regelmäßigen Treffen mit ihm, einmal in der Woche, meist am Samstag, um zusammen auf dem Markt einkaufen zu gehen, zu kochen, zu essen, zu reden und zu trinken, oft bis in den Abend hinein. Der Termin mit ihm war eine wichtige Konstante in ihrem Leben gewesen.
Aber es war höchste Zeit, alles zu ändern. Auch die Konstanten in ihrem Leben, die angenehmen ebenso wie die unangenehmen.
Als Fritz Eisele sie angerufen hatte, war sie überrascht gewesen, denn sie hatte mehr als zwei Jahre nichts von ihrem ehemaligen Professor gehört. Noch überraschter war sie gewesen, als er ihr ohne Umschweife einen Job anbot. Am IICO , das offiziell nicht einmal existierte.
Das Gespräch war kurz gewesen. Ob sie die Inhalte komplett für sich behalten könne? Ja. Ob sie den Job wolle, als Nachfolgerin eines jungen Forschers, spezialisiert auf Eiskerne, Datenerhebung und integrierte Klimasystemanalyse, alles im Rahmen eines ehrgeizig angelegten Geoengineering-Projekts? Ja. Ob sie den Job binnen zwei Wochen antreten könne, sofern er, Eisele, mit Rieter spräche, dem Leiter der Hamburger Climate System Analysis and Prediction, wo sie seit Jahren als Forschungsassistentin feststeckte? Ja. Ob sie sich ihr Talent erhalten habe, jenseits ausgetretener Pfade kreative Abkürzungen zum Ziel zu finden? Sie bejahte auch diese Frage, obwohl sie nicht sicher war. Die letzten Jahre am CL iSAP hatten sie mancher Illusion beraubt, aber das musste Eisele nicht wissen.
Er versprach ihr einen Anruf der Assistentin von Bjarne Gerrittsen, des IICO -Leiters. Und er werde sich bei ihr melden, sobald sie auf Palma gelandet sei und sich akklimatisiert habe.
Nach dem Gespräch hatte Mavie ihren iAm eine ganze Weile einfach angestarrt und sich gefragt, ob sie noch ganz bei Trost war. Ihren Job, ihre Stadt, ihren Freundeskreis einfach über Nacht aufzugeben, alles wegzuwerfen, um für ein Institut zu arbeiten, über dessen Projekte und Ziele sie praktisch nichts wusste – nur weil irgendein Exprofessor sie anrief und fragte?
Aber Fritz Eisele war nicht irgendein Exprofessor und schon gar nicht irgendwer. Sondern »Al Gores attraktiver europäischer Bruder« (laut FAZ ), was er nicht gern hörte, weil er weder Gore noch die USA sonderlich schätzte, wahlweise der »Weltmahner« (laut taz ), was er erst recht nicht gern hörte, weil er die Linke noch viel weniger schätzte als Gore und die USA . Tatsache war aber, dass er mahnte – und dass man ihm zuhörte, seit Langem, und seit einigen Jahren weltweit. Ganz gleich, wohin er reiste, um über den Klimawandel und die Optionen der Menschheit zu sprechen, diesem Klimawandel zu begegnen, füllte er Hörsäle und Veranstaltungshallen. Was nicht nur an seinem Thema lag, sondern auch und nicht zuletzt daran, dass er, anders als die meisten Wissenschaftler, ein charismatischer Redner war, der seine Zuhörer nicht langweilte, sondern es verstand, hochkomplexe Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren – auf prägnante Formulierungen und Schlagsätze, die jeder Zuhörer sofort verstand. Und die jeder Journalist dankbar aufnahm. Der Planet kommt ohne uns klar, aber wir nicht ohne ihn. Energie ist nicht erneuerbar, aber unser Denken und Handeln ist es. Wer die Welt verbessern will, muss sie zuerst verstehen. Die Erda hat alle Zeit der Welt – wir nicht. Den Untergang der Titanic verhindert man nicht mit einem Teelöffel.
Man schätzte und bewunderte ihn für deutliche Worte wie diese – und Mavie respektierte ihn, weil sein Ziel, sein Anliegen, für das er so vehement und leidenschaftlich stritt, auch ihres war: die Welt zu verstehen, mittels strenger Wissenschaft – und mitzuwirken, egal, auf welchem Weg, diese Welt vor dem drohenden Kollaps zu bewahren. Auch wenn Mavie durchaus nicht immer gefiel, was Eisele von sich gab, denn bei mancher Vereinfachung zuckte sie innerlich zusammen, weil sie nur zu genau wusste, dass sie alles Wesentliche unberücksichtigt ließ. Aber die Hintergründe dieser seiner »Neigung zum Simplen, nicht Fachsimpeln« hatte er ihr schon vor Jahren erklärt, als sie ihn unter vier Augen, bei einem Abendessen, freundlich darauf
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