Prophezeiung
müssen.
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2 Die Demonstranten waren früh dran, aber nicht besonders zahlreich. Als Mavie vor dem Abflugterminal des Hamburg Airport aus dem Taxi stieg, drückte ihr einer der verschlafenen, missmutigen Protestler einen Zettel in die Hand, auf dem ein großes »Nein!« stand, darunter »Stoppt die CO 2 -Abzocke!«, kleiner »Reisefreiheit für alle!« und eine URL . Sie lächelte, half dem pakistanischen Taxifahrer, ihre Taschen auszuladen, und zahlte Rechnung und Trinkgeld, indem sie ihren iAm vor das Lesegerät des Fahrers hielt. Der Demonstrant war längst weitergeschlurft und belästigte die nächsten Fluggäste mit einem seiner Zettel, und Mavie fragte sich, wieso die Revoluzzer ausgerechnet vor dem Flughafen standen. Konnten die sich nicht denken, dass Menschen, die vor dem Flughafen aus Taxis stiegen – fliegen wollten? Und es sich leisten konnten, im Gegensatz zu den meisten anderen?
Es schienen besondere Demonstranten zu sein. Besonders begriffsstutzige. Jedenfalls wurden sie offensichtlich nicht von der Tourismusbranche bezahlt, so wie ihre zahlreichen Vorgänger in den ersten Monaten nach der drastischen Erhöhung der Flugpreise vor zwei Jahren. Was war das für ein Aufschrei gewesen. Zunächst die seit Jahrzehnten überfällige Besteuerung von Flugbenzin mit Mineralöl- sowie Ökosteuer und vollem Mehrwertsteuersatz, und dann hatte die Einführung der »Cops«, der Carbonpunkte, die jeder Bürger automatisch durch seinen tagtäglichen Energieverbrauch sammelte, der Tourismusbranche den letzten empfindlichen Schlag versetzt.
Flugreisen waren über Nacht fast dreimal so teuer geworden wie noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, und es hatte ein paar Monate gedauert, bis die deutschen Anbieter begriffen, dass darin nicht nur ein Fluch lag, sondern auch ein Segen. Denn verreisen wollten die Leute natürlich weiterhin, und das dringend. Also buchten sie, zunächst murrend, näher liegende Ziele als solche in der Karibik oder in Asien. Die Reichen verreisten weiterhin, wohin sie wollten, die Betuchteren verreisten weiterhin bis auf die Kanaren, aber auch die weniger Wohlhabenden benötigten Tapetenwechsel und dazugehörige Unterkünfte – und waren, wie sich rasch herausstellte, gar nicht so unglücklich, in den wie Pilze aus dem deutschen Boden schießenden neuenErlebnisparks und Wohnanlagen ihre Urlaubszeit zu verbringen. Und so waren schon zwei Jahre nach Einführung der »Cops« fast alle Proteste verstummt – denn abgesehen von den Fluglinien, die ihre Flotten hatten verkleinern müssen, dafür aber reich von der EU entschädigt worden waren, hatten alle gewonnen. Vor allem die Tourismusbranche selbst und die Regierung. Denn das in Deutschland verdiente Geld floss nicht mehr in Milliardensturzbächen nach Spanien oder in die Türkei, sondern sorgte im Land selbst für Beschäftigung, und wer in den Sommermonaten auf Urlaub verzichtete und stattdessen einheimischen Touristen die Betten machte oder Eistüten verkaufte, verdiente mit etwas Glück genug, um den Rest des Jahres alles deutlich geruhsamer angehen zu lassen.
Die Protestler vor dem Flughafen schienen davon auch nach all den Jahren noch nichts mitbekommen zu haben, aber Mavie verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen. Nicht nur, weil sie keine Zeit hatte.
Am Automaten ließ sie sich die Bordkarte auf ihren iAm übertragen und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass ihr »Cop«-Konto nicht mit der Klimawirkung von 1,8 Tonnen CO 2 belastet wurde, dem »Budget« eines Inders für ein ganzes Jahr. IICO zahlte, nicht nur den Flugpreis erster Klasse.
Die Maschine nach Palma war nur zu einem Drittel gebucht, in der ersten Klasse saß außer Mavie nur ein einziger weiterer Fluggast, ein älterer Herr mit verwegener Frisur, der sie an ihren Vater erinnerte, an Edward. Nur dass Edward sich nicht in ein Flugzeug gesetzt hätte, nicht mehr, nie mehr. Vor nun schon fast 25 Jahren, quasi mit dem Tag der Beerdigung von Mavies Mutter Christina, hatte Edward sein Cabrio verkauft und sich strikt geweigert, jemals wieder ohne Not irgendetwas Gefährliches zu tun. Er hatte sogar aufgehört, morgens schwimmen zu gehen. Schließlich war er von diesem Tag an der einzige noch lebende Verwandte seiner damals achtjährigen Tochter Mavie gewesen, und Edward hatte seine Verantwortung ernst genommen. Sehr ernst. Es war seine Antwort auf den Schicksalsschlag gewesen, seine einzige Möglichkeit, mit dem Verlust der Frau, die er liebte, fertig zu werden: ein
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