Psalms of Isaak 01. Sündenfall
mit seiner Bibliothek angekommen.«
Petronus’ Augenbrauen hoben sich. »Seiner Bibliothek? Weshalb sollte Vlad Li Tam uns seine Bibliothek schicken?«
Sie hatte den Großteil des Tages damit verbracht, sich genau diese Frage zu stellen. Ihr Vater schätzte seine Bücher sehr, und sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn dazu bewegen könnte, sie aufzugeben. »Dieselbe Frage habe ich mir auch gestellt, Eure Exzellenz«, sagte sie.
»Habt Ihr ihn gefragt?«
Sie schüttelte den Kopf, suchte nach den richtigen Worten. »Mein Vater und ich haben keinen Kontakt zueinander«, sagte sie schließlich.
Jin Li Tam beobachtete, wie Überraschung sich auf Petronus’ Gesicht ausbreitete. Sie sah ihm in die Augen und erkannte die Fragen, die sich darin bildeten, dann sah sie, wie er diese Fragen beiseiteschob. »Also hat Vlad Li Tam aus einem unbekannten Grund seine Bibliothek unserem Unterfangen hier zur Verfügung gestellt. Und er hat diesen mechanischen Vogel mitgeschickt.« Er hielt inne. »Das scheint Euch zu verstören, edle Dame Tam.«
Sie nickte. »Das ist nicht alles«, sagte sie und schluckte. Ein Teil von ihr hatte Angst, noch weiter zu gehen. In den letzten Monaten war sie davon, den Willen ihres Vaters lediglich infrage zu stellen, dazu übergegangen, seine Arbeit in den Benannten Landen mit Abscheu zu betrachten.
Meinen eigenen Anteil daran verabscheue ich sogar noch mehr, dachte sie, und blickte wieder auf den Vogel. Ihr wurde klar, dass Petronus darauf wartete, dass sie fortfuhr. »Neb glaubt, den Vogel an jenem Tag in der Nähe von Windwir gesehen zu haben, an dem die Stadt gefallen ist.«
Petronus beugte sich vor, seine Augen verengten sich. »Hat Euer Vater den Vogel jemals dazu benutzt, Nachrichten zu überbringen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht. Dafür war er ihm zu auffällig.«
Petronus nickte langsam und betrachtete nun ebenfalls den Vogel. »Ich frage mich, ob er irgendwie die Finger im Spiel hatte.«
Jin Li Tams Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte es noch nicht ausgesprochen, aber sie stellte sich dieselbe Frage. Gewiss hatte Sethbert die Stadt vernichtet. Daran bestand kein Zweifel. Er hatte es offen vor ihr zugegeben. Aber sie kannte Sethbert, seine Neigung zu Ausbrüchen von Zorn und schlechter Laune, seine Neigung zu ebenso viel Faulheit wie Rücksichtslosigkeit. Sie bezweifelte nicht, dass er Windwirs Zerstörung herbeigeführt hatte. Aber sie glaubte keinen Augenblick lang, dass er nicht in diese Richtung gelenkt worden war. Und in den gesamten Benannten Landen gab es einen Mann, dessen einziges Werk darin bestand, Leute dazu zu verbiegen, seinen Willen auszuführen, und sein Netzwerk aus Kindern zu benutzen, um Informationen zu sammeln und seine Strategie umzusetzen. Schließlich sagte sie die Worte, vor denen sie sich scheute, seit dem Augenblick, in dem sie den Vogel erblickt hatte: »Ich fürchte, dass mein Vater Sethbert benutzt hat, um Windwir zu vernichten.«
Petronus nickte. »Es muss Euch schwer gefallen sein, zu diesem Schluss zu kommen«, sagte er. Seine Stimme nahm einen sanften Ton an. »Es ist schwer festzustellen, dass das, was wir am meisten lieben, nicht das ist, was es zu sein scheint.«
Jin nickte. Plötzlich musste sie gegen Tränen ankämpfen. Sie zwang sie zurück und dachte über diesen alten Papst nach. Seine Worte strotzten vor Überzeugung, und sie spürte, wie sich in ihrem Verstand eine Frage herauskristallisierte. Jin zögerte noch einen Moment, dann stellte sie sie. »Habt Ihr deswegen das Papsttum hinter Euch gelassen?«
Petronus nickte. »Damit hat es zu tun.«
»Und nun, nach all den Jahren, seid Ihr zurückgekehrt. Wünscht Ihr Euch je, Ihr hättet Euer Amt nie aufgegeben?«
Petronus seufzte. »Das wünsche ich mir jeden Tag.« Als er weitersprach, war seine Stimme voll Trauer. »Ich glaube immer noch, dass ich diese Tragödie vielleicht hätte verhindern können, wenn ich geblieben wäre.«
Sie stellte sich heute ähnliche Fragen, wenn sie über diesen Vogel und seine mögliche Bedeutung nachdachte. Sie hatte beinahe drei Jahre bei Sethbert verbracht, hatte Informationen an ihren Vater weitergeleitet und auf Anweisung ihres Vaters hin Informationen an Sethbert durchsickern lassen. Ich hätte sehen sollen, was da geschah, aber ich war von meinem Glauben an den Willen meines Vaters geblendet.
Petronus fuhr fort. »Ich wünsche es mir jeden Tag«, wiederholte er, »aber ich weiß, dass es ein törichter Wunsch ist.« Er zwang
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