Psalms of Isaak 01. Sündenfall
Petronus’ Einmischung hingenommen.
Petronus hatte die Briefe, nach denen er gesucht hatte, nicht in der Botentasche gefunden. Sie hätten im Wagen sein müssen, aber andererseits war der Junge nicht alt genug, dass er ein Akolyth hätte sein können. Vielleicht ein Praktikant oder ein Assistent, obwohl auch jene für gewöhnlich schon ihre Reife erlangt hatten. Von Zeit zu Zeit wurde es sicher auch anders gehandhabt. Der Wagen war eindeutig für die Ödlande bestimmt – seinem Aussehen nach ein Routineeinsatz, bei dem keine Wertgegenstände mitgeführt wurden, die eine Begleitung durch die Graue Garde rechtfertigten.
Also fehlten sowohl die Briefe als auch mindestens ein weiterer Androfranziner.
Und dann war da noch der Krieg. Die beiden Armeen ganz in der Nähe waren Windwir zu Hilfe gekommen und bekämpften sich nun gegenseitig. Weshalb? Eines von Petronus’ liebsten Zitaten war P’Andro Whyms Antwort auf die Frage nach der Suche nach der Wahrheit, die man ihm gestellt hatte:
Die Wahrheit , so sprach das Siebzehnte Evangelium, ist ein Samen, der in einem Feld aus Steinen unter einem Stein keimt und von Schlangen bewacht wird. Um sie zu erlangen, sei stark genug, den Stein wegzuwälzen, geduldig genug, ein Loch zu graben, und schnell genug, den Giftzähnen der Viper auszuweichen.
Er würde seine Grabung fortsetzen, wenn der Junge aufwachte, und wenn er sicher sein konnte, dass keine Augen und Ohren außer den ihren mehr in der Nähe waren. Und er würde nicht vergessen, dass Vipern in vielen Gestalten und Größen auftraten.
Kapitel 10
Jin Li Tam
Für Jin Li Tam wimmelte es in der Siebten Waldresidenz und der Stadt, die sie umgab, von Leben in allen Regenbogenfarben. Das Haus selbst war auf einer leichten Anhöhe errichtet, und die Stadt drängte sich von allen Seiten dicht heran – eine Ansammlung von Straßen mit Kopfsteinpflaster und ebenerdigen oder einstöckigen Gebäuden aus glatt gehobeltem Holz und Glasfenstern, die in einer Vielzahl von Farben bemalt waren. Die Leute trugen vor allem Baumwollkleidung, obwohl sie manchmal auch die Seidenkleider sah, für die ihre Heimat an den Smaragdküsten so berühmt war.
Sie fragte sich, weshalb sie noch nie zuvor hier gewesen war, wischte diesen Gedanken aber schnell beiseite. Es hatte keinen Grund gegeben. Die Zigeuner blieben unter sich, abseits der Machenschaften und Intrigen der Benannten Lande. Immer wieder einmal hatte sie gehört, dass Rudolfo mit seinen Spähern nach Süden ritt, um der ein oder anderen Feierlichkeit beizuwohnen. Aber das waren niemals die Feste gewesen, zu denen auch sie ging, und zumeist kamen die Leute von den Neun Häusern der Neun Wälder nicht aus ihrer Ecke der Welt heraus.
Sie wanderte allein durch die Straßen und wusste um die Späher, die ihr in angemessener Entfernung folgten. Sie wollten ihr die Illusion von Unabhängigkeit vermitteln, aber sie nahm an, dass nicht viel geschehen musste, damit sie herbeieilten. Natürlich befand sie sich so weit vom Krieg entfernt in keiner großen Gefahr. Die Späher waren nicht einmal magifiziert.
Während sie spazieren ging, lauschte Jin den Stimmen um sich herum und schnappte dabei Bruchstücke aus dem Alltagsleben im Wald auf: einen Flickenteppich aus Jagdgeschichten, Gerüchten über den Krieg und über Windwir, Fetzen von Tratsch, wer mit wem das Bett teilte und was das wohl war, das Soundsos Sohn in der Siebten Waldresidenz hatte herumhumpeln sehen.
Jin hielt inne.
»Er war wie ein Androfranziner gekleidet, hat er gesagt. Aber ganz aus Metall gemacht.«
Sie hatte sich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis das Geheimnis bekannt wurde. Bestimmt waren die meisten Leute mit den Automaten vertraut, die die Androfranziner der Welt nach und nach enthüllt hatten. Mit Kleinigkeiten wie dem Vogel, den ihr Vater in den Hausgärten hielt, unter der kristallenen Kuppel. Dieser kleine Goldvogel unterschied sich von allen anderen, die sie bisher gesehen hatte, und er konnte in sechzehn Sprachen singen. Er konnte auch kurze Sätze sprechen – einfache Dinge, wie eine Bitte um Wasser, das er nicht trinken, oder Nahrung, die er nicht essen konnte. Er war ein Geschenk von einem der Päpste gewesen, soweit sie wusste, vor Jahren schon.
Aber Isaak war anders. Er erreichte die volle Größe eines Menschen – vielleicht war er sogar einen Kopf größer als der Durchschnitt -, war schlank, aber massiv gebaut, und er war womöglich das erstaunlichste Wunder, das sie je erblickt hatte.
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