Psychologische Homöopathie
waren. Es heißt, Napoleon sei konstitutionell Mercurius gewesen. Er war bekannt dafür, daß er die Angewohnheit hatte, seine Soldaten in die Nase zu kneifen, eine Geste, die irgendwie ihren Weg in die Arzneimittellehre von Mercurius fand. Aus den Beschreibungen derjenigen, die ihn kannten, wurde ein psychisches und physisches Profil des großen Generalszusammengestellt und repertorisiert. Daraus ergab sich Mercurius als führendes Arzneimittel.
Ein gutes zeitgenössisches Beispiel für einen Mercurius-Möchtegerndiktator ist Wladimir Schirinowsky, der russische Ultranationalist, der bei der ersten demokratischen Wahl in Rußland mit dem besten Wahlergebnis ins Parlament kam. Schirinowsky ist ebenso charmant und clever wie unberechenbar und gefährlich. Er verspricht alles und spielt mit den Schwächen der Menschen und ihrer Sehnsucht nach Ruhm und Selbstachtung. Er ist geistig recht gesund, aber trotzdem stößt er gelegentlich absurde Drohungen und Versprechen aus, wie beispielsweise, daß die russische Armee auf die Krim marschieren und das frühere russische Reichsgebiet zurückverlangen werde. Seine Vision eines russischen Staates vom Mittelmeer (!) bis zum Indischen Ozean erinnert an den Machttrieb, den Napoleon hatte. Obwohl er noch nicht einmal das Oberhaupt des russischen Staates ist, träumt er schon von einem sehr viel größeren Herrschaftsgebiet. Schirinowskys gelegentliche Drohungen, Japan »nuklear« anzugreifen, und seine unberechenbaren Auftritte in der Welt scheinen seiner Beliebtheit zu Hause keinen Abbruch zu tun. Mercurius kann theatralisch sein, und das ist sicher eine der größten Stärken, die Schirinowsky als Politiker hat.
Man kann sich die Frage stellen, warum Schirinowsky und Napoleon nicht zu einem anderen diktatorischen Typ wie Nux vomica, Veratrum oder Stramonium gehören. Der Grund ist, daß keiner von ihnen so vernünftig und geistig gesund ist wie Nux vomica, aber auch nicht verrückt genug, um Veratrum oder Stramonium zu sein. Ein anderer Diktator, der konstitutionell Mercurius sein könnte, ist Saddam Hussein. Er hat bei all seiner Brutalität etwas Jungenhaftes und Charmantes, und er ist wahrscheinlich nicht wahnsinnig genug, um einer der wirklich psychotischen Typen zu sein. Seine Angewohnheit, sich mit Leuten zu umgeben, die ihm ähnlich sind, ist bemerkenswert und erinnert an die Eitelkeit von Mercurius, aber auch an dessen Liebe zur Nachahmung und zur Einbildung. Weiterhin war sein Überfall auf Kuwait ziemlich dumm und impulsiv, fast so, als sei er ein ungehöriges Kind und nicht ein vernünftiger, praktisch denkender General. Saddams offenkundige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid, das er verursacht, entspricht ziemlich genau Mercurius, der jede seiner Handlungen geschickt zu rechtfertigen weiß und schnell vergißt, woran er sich lieber nicht erinnern möchte. (Lewis über Sellers: »Indem er sein Bewußtsein regelmäßig ausleerte, konnte Sellers solche menschlichen Schwächen wie Schuldgefühle loswerden.«)
Mein Mercurius-Freund (der eindeutig auf die Arznei reagierte) sagte einmal, er wäre gerne Präsident der Vereinigten Staaten, aber nur, wenn er dannwirklich die Macht hätte, Dinge zu verändern. Mercurius kann das langwierige Hin und Her demokratischer Institutionen nicht ertragen; es dauert ihm zu lange, bis dabei Veränderungen erreicht werden. Er ist mehr ein Freund von »Schnellschüssen«, bevorzugt die plötzliche dramatische Veränderung, die permanente Innovation. Mercurius wäre ein entsetzlicher Beamter. Seine Neigung zu Grausamkeiten hat damit zu tun, daß er menschliche Gefühle wie Liebe und Reue bewußt ausschalten kann. Mercurius kann seine Gefühle so geschickt auswählen, daß er fähig ist, beispielsweise Liebe, aber keine Reue zu empfinden. Er kann alles nach Gutdünken zulassen oder ausblenden. Es ist diese außerordentliche geistige und emotionale Plastizität, die Roger Lewis über Peter Sellers schreiben ließ: »Herzlos und sentimental, großzügig und knickrig, gewalttätig und leicht zu Tränen gerührt … Sellers hätte die Psychiater reihenweise verschlissen.« Sellers konnte alles sein, was er wollte, und das machte ihn zu einem Monster. Die Maskengestalt, die Jim Carrey spielt, ist auf unheimliche Weise halb menschlich und halb dämonisch. Ähnlich faszinierend ist die roboterhafte Fernsehpersönlichkeit Max Headroom, denn er präsentiert Scherze und vor allem subtile Wortspiele und schlaue Satire schneller und unterhaltsamer,
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