Psychologische Homöopathie
Paranoia, die nicht psychotisch waren (wie bei Veratrum, Stramonium, Belladonna, Hyoscyamus), sondern eher eine Überreaktion auf Widersprüche, die er im sozialen oder beruflichen Bereich erlebte. Je mehr sich Mercurius als fremdartig empfindet, desto mehr neigt er dazu, sich indieser Welt unsicher zu fühlen. Es ist die Angst des Fremden, der weiß, daß er anders ist. Vielleicht habe ich deshalb den Eindruck, daß die Mercurius-Konstitution stärker unter Juden verbreitet ist, die auf der ganzen Welt immer Minderheiten waren. Die Juden sind bekannt für ihren scharfen Verstand, ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Zurückhaltung, die manchmal an Arroganz grenzen kann. All diese Züge sind charakteristisch für Mercurius.
Manchmal löst das Gefühl der Fremdartigkeit bei Mercurius Verzweiflung und Todessehnsüchte aus. Diese Tendenz findet man bei allen syphilitischen Typen, einschließlich Aurum und Syphilinum. Die junge Frau, deren Identität so brüchig war, daß sie leicht in Hunderte von Ichfragmenten zersplittern konnte, fühlte oft diese Art von Verzweiflung. Sie fügte die einzelnen Fragmente allmählich wieder zusammen, indem sie zwei sehr merkurische Techniken benutzte. Die eine war Schreiben. Indem sie Tagebuch führte, konnte sie durch Analysieren und Beschreiben ihre eigene Psyche als sinnvoll empfinden. Die andere Technik war das Ritual (siehe unten).
Der obige Fall machte mich mit einem faszinierenden Phänomen bekannt, das ich für ein besonderes Mercurius-Charakteristikum halte, das Phänomen der »Zwillingshaftigkeit«. Es gibt eine merkwürdige Beziehung zwischen dem Mercurius-Menschen und den Eigenschaften von Merkur und seinem astrologischen Zeichen, den Zwillingen. Es wird als Zwillingspaar dargestellt und soll eine »gespaltene Persönlichkeit« haben. Der Mercurius-Mensch hat häufig das Gefühl, daß ihm eine Hälfte fehlt. Dieses Gefühl wird oft von der Sehnsucht nach einem Zwillingsbruder oder einer Zwillingsschwester und einer Faszination für Zwillinge begleitet. Die Mercurius-Frau, die darum kämpfte, die Bruchstücke ihrer selbst wieder zusammenzusetzen, sprach häufig von ihrer Tendenz, andere Menschen als ihren Zwilling zu behandeln. Sie beschrieb sogar, wie sie sich von dem anderen in einem solchen Ausmaß vereinnahmt fühlte, daß sie nicht mehr wußte, wo sie aufhörte und der andere begann. Der »Zwilling« war einerseits eine Quelle des Trostes, weil er ein Gefühl der Ganzheit vermittelte und die fehlenden Teile ergänzte, aber er löste andererseits auch ein Gefühl von Angst und Machtlosigkeit aus, denn meine Patientin fühlte sich vollkommen abhängig, wenn sie ihrer Neigung nachgab, den Zwilling auf jemand anders zu projizieren. Diese junge Mercurius-Frau war tatsächlich überzeugt, daß sie in der Embryonalzeit einen Zwilling hatte, der vor der Geburt gestorben war, obwohl ihr das nie jemand erzählt hatte. Wenn sie sich erlaubte, darüber nachzudenken, empfand sie jedesmal starken Kummer. (Es ist eine Tatsache, daß in den meisten Fällen, in denen Zwillinge empfangen wurden, nur ein Kind geboren wird. Der andereZwilling verschwindet irgendwie, meist in der ersten Zeit der Schwangerschaft. Insofern ist die Intuition meiner Patientin gar nicht so weit hergeholt.)
Verschiedene andere Mercurius-Menschen haben mir erzählt, daß sie das Verlangen haben, mit jemand anders, der ihnen so ähnlich ist, daß eine tiefe Einheit entstehen kann, vollkommen zu verschmelzen. In einigen Fällen hatten sie Beziehungen, denen auf einer gewissen Ebene die Erfüllung fehlte, auch wenn es sonst »gute« Beziehungen gewesen waren, weil der Partner nicht ähnlich genug war, um das Bedürfnis nach einem Zwilling zu erfüllen. In gewisser Weise kann man dieses Bedürfnis nach einem Zwilling als Ausdruck von Narzißmus ansehen. Dabei ist Mercurius nicht unbedingt in sich selbst verliebt. Das mag der Fall sein oder auch nicht, aber er braucht anscheinend eine Art Spiegelung seiner selbst, ganz gleich ob es sich dabei um einen anderen Menschen handelt, der ihm ähnlich ist, oder um einen wirklichen Spiegel. Verschiedene Mercurius-Patienten haben mir erzählt, daß sie es tröstlich finden, in den Spiegel zu sehen, oder das sogar für ihre psychologische Stabilität brauchen. Es ist so, als brauche Mercurius eine Art objektiver Bestätigung für seine Existenz. Das entspricht dem Grundthema des »Mediums«, des Boten der Götter, der keine feste eigene Identität hat.
In seiner Distanziertheit
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