Psychologische Homöopathie
mißbraucht worden ist, eine Erinnerung, die sie jahrzehntelang verdrängt hatte. In diesem Fall war die sexuelle Aktivität der auslösende Faktor für die Depression. Ohne die Arznei hätte sie die Ursache vielleicht nie erkannt, und die Depression hätte für den Rest ihres Lebens weiterbestehen können. (Viele Menschen erkennen die Ursache trotz der Arznei nicht.)
Die hartnäckigsten Fälle von Depression findet man bei solchen Natrium-Menschen, die von Geburt an zahlreiche Traumata erlitten haben. (Diese Leute berichten außergewöhnlich häufig über eine schwierige Geburt.) Tragischerweise waren sie ihr Leben lang Opfer und haben einen Mißbrauch nach dem anderen erduldet. Sie haben meist einen absoluten Mangel an Selbstvertrauen und Selbstachtung und reagieren auf jeden Mißbrauch und jede Bedrohung eher mit Furcht und Traurigkeit als mit Wut. Meist hängen sie sich geradezu verzweifelt an Therapeuten, die ihnen Hoffnung geben, und abgesehen von ihrer hartnäckigen Tendenz, sich selbst abzuwerten und jeden Mißbrauch still zu ertragen, sind sie »Musterpatienten«, die jeder Anweisung buchstabengetreu folgen und, wenn es ihnen gutgeht, in der Sprechstunde erscheinen und sich jedesmal bei ihrem Therapeuten begeistert bedanken. Oft lächeln oder lachen sie bei unpassenden Gelegenheiten, oder sie weinen heftig, wenn sie von ihren früheren Leiden sprechen. Solchen Patienten kann man mit der Arznei zwar weiterhelfen, aber nur die tiefste Psychotherapie kann ihren Schmerz auflösen, und auch das nur nach Jahren der Therapie.
Das charakteristischste an der Natrium-Depression ist, daß sie überwiegend stumm verläuft. Die Patienten sprechen mit niemandem über ihre Gefühle der Traurigkeit und Angst, und oft werden auch die Tränen zurückgehalten. Dafür gibt es verschiedene Gründe, aber der wichtigste besteht darin, daß der Patient den Berg von Traurigkeit unter der Oberfläche spürt und nicht bereit ist, sich damit durch Weinen auseinanderzusetzen. Natrium unterdrückt seine Tränen aber auch, weil er sich schuldig fühlt, wenn er andere Menschen in Verlegenheit bringt, und weil er Weinen für ein Zeichen von Schwäche hält. Einige depressive Natrium-Patienten können überhaupt nicht weinen, vor allem einige Männer. Ihre früheren emotionalen Wunden waren so schmerzhaft, daß sie sie mit einem undurchdringlichen Schild bedeckt haben und ihre Gefühle jederzeit fest unter Kontrolle halten. Dieser Schild verhindert eine echte Genesung, aber durch die Arznei bricht er oft zusammen.
Natrium ist ein Mittel zur Behandlung von Stauungen aller Art: Flüssigkeitsstauungen, die Stauung von salzigen Tränen, von Trauer und Ärger und die allzu starke Bindung an geliebte Menschen. Loszulassen ist für Natrium das schwierigste, und das gilt auf den verschiedensten Ebenen.
Während der depressiven Phasen kommt es immer wieder dazu, daß die alten Dämonen, die im Unterbewußtsein des Patienten lauern, an die Oberfläche kommen. Depressionen treten auf, wenn die psychologischen Abwehrmechanismen überflutet werden, und mit dieser Flut steigt das dunkle Wasser aus der Tiefe auf und weckt die schlafenden Monster, die dann voll ins Bewußtseintreten. Dazu gehören Schuldgefühle, Furcht und das Gefühl der Wertlosigkeit, das die Wurzel der Unsicherheiten von Natrium bildet.
Einige Natrium-Depressionen sind aktiver als andere. Die Abwehrmechanismen, die die unterdrückten Gefühle zurückhalten, haben vielleicht nur einige kleine Risse. In diesem Fall tritt eine langdauernde, aber nur leichte Depression auf, die durch Apathie gekennzeichnet ist (Kent: »Stumpfsinn, Trägheit«), verbunden mit leichten Gefühlen von Reizbarkeit, Trauer, Angst oder Schuld. Es kann schwierig sein, diese apathische Depression von einer Sepia-Depression zu unterscheiden. Im allgemeinen weint die depressive Sepia mehr, aber das ist kein zuverlässiges Unterscheidungskriterium. Oft werden einem die Körpersymptome besser weiterhelfen, besonders die typischen Symptome der prämorbiden Persönlichkeit. Von einigen Ausnahmen abgesehen entwickelt sich bei Sepia-Menschen eine Sepia-Depression und bei Natrium-Menschen eine Natrium-Depression.
Die apathische depressive Natrium-Frau schläft meist sehr viel. Dann braucht sie sich nämlich keine Sorgen darüber zu machen, wie sie ihre perfektionistischen Normen aufrechterhalten soll. Sie kann zulassen, daß sich die Hausarbeit allmählich türmt, und sie kümmert sich auch nicht mehr darum, was die
Weitere Kostenlose Bücher