Psychologische Homöopathie
den Männem dieses Konstitutionstyps ausgeprägt. Die Mehrzahl der Argentum-Frauen, die ich behandelt habe, waren eher intellektuell als emotional, aber sie waren nicht so exzentrisch wie die Männer. Deshalb kann es schwieriger sein, Argentum-Frauen zu identifizieren. Sie haben zwar immer noch die typischen Ängste und die Impulsivität von Argentum, aber auf der anderen Seite wirken sie wesentlich »normaler« als die Männer.
Der Verstand von Argentum ist in jeder Beziehung merkurisch. Von schneller Auffassungsgabe, aber mit wenig Ausdauer neigt er dazu, von einem Thema zum anderen zu springen. Daraus entsteht irn günstigsten Fall ein Wissen von enormer Breite, das zuverlässig und tiefgründig ist, irn ungünstigsten Fall aber ein oberflächlicher, zerstreuter Geist, auf den man sich nicht verlassen kann (Kent: »unfähig, sich zu konzentrieren«).
Unberechenbarkeit ist ein Schlüsselsymptom von Argentum. Nach Kent ist Argentum »unlogisch, unvernünftig, verhält sich sonderbar, kommt zu wunderlichen Schlüssen und handelt närrisch«. Beim gesunden Menschen macht sich diese Unvernunft in Form von impulsivem Handeln bemerkbar, er tut oder sagt das, wozu er Lust hat, und nimmt normalerweise keine Rücksicht darauf, was andere Leute denken. Argentum ist oft ein geistreicher Mensch und kann plötzlich im Gespräch Ausdrücke aufgreifen und daraus ein Wortspiel machen. Er ist ähnlich verspielt wie Phosphor, aber intellektueller. Sogar bei der Bekleidung ist sein Geschmack eher unkonventionell. Mehrere meiner Argentum-Patienten trugen helle, harlekinartige Farben, die, gemessen am vorherrschend konservativen Stil der Briten, ziemlich unpassend waren. (Die Farben paßten in der Regel gut zueinander, was durchaus einen Sinn für Stil und Ästhetik beweist – Wahnsinn mit Methode.) Ein Argentum-Patientarbeitete als Clown und machte Straßenmusik in der City. Er trug bei der Arbeit einen Harlekinanzug, der mich in auffälliger Weise an die Farben erinnerte, die einige meiner anderen Argentum-Patienten trugen.
Der labile Geist
Wie auch bei anderen vorwiegend intellektuellen Typen macht sich die Argentum-Pathologie zunächst eher auf der geistigen als auf der emotionalen Ebene bemerkbar (Kent: »Überwiegen der geistigen Symptome, während die Affekte nur in geringem Grade betroffen sind«). Das erste Anzeichen, daß Argentum geistig nachläßt, zeigt sich oft darin, daß die plötzlichen Einfälle immer häufiger auftreten und immer merkwürdiger werden. Sogar relativ stabile Argentum-Menschen haben manchmal seltsame mentale Impulse, von denen sie wissen, daß sie irrational sind. So kann ein Argentum-Lehrer beispielsweise plötzlich auf die Idee komrnen, einen Fluch an die Tafel zu schreiben oder ein Tintenfaß über dem Kopf eines Schülers auszuschütten. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle widersteht der Betreffende solchen Impulsen, aber sie können sehr mächtig sein, und man braucht dann eine Menge Kraft, um sich dagegen zu wehren.
Ein mentaler Impuls von Argentum ist außerordentlich weit verbreitet und charakteristisch für diesen Typ, und zwar der Wunsch zu springen, wenn er aus großer Höhe nach unten sieht, sei es nun aus einem Fenster im obersten Stockwerk oder vom Geländer einer Brücke. Der Impuls kann so stark sein, daß diese Menschen solche Situationen meiden, weil sie Angst haben, sie könnten wirklich springen (Kent: »Impuls zu springen«). Das Bedürfnis zu springen hat nichts mit irgendwelchen Selbstmordabsichten zu tun, sondern ist sowohl für den Patienten als auch für den Homöopathen vollkommen unerklärlich. Es ist einfach nur einer dieser merkwürdigen Einfälle von Argentum.
Es ist nicht überraschend, daß jemand, der so seltsame Ideen hat, manchmal denkt, er würde seinen Verstand verlieren. In vielen Fällen kommen die Einfälle jedoch nur gelegentlich und sind leicht zu kontrollieren. Dann kann der Homöopath lediglich den Eindruck eines allgemein impulsiven Charakters gewinnen, weil die ungewöhnlicheren Einfälle entweder fehlen oder nicht erwähnt werden. (In diesen Fällen lohnt es sich, den Patienten ausdrücklich zu fragen, ob er gelegentlich seltsame Gedanken oder Ideen hat.) Wenn die Pathologie tiefer geht, können die charakteristischen Impulse jedoch sehr stark werden, ebenso wie die Furcht vor einem intellektuellen Zusammenbruch (Kent: »Furcht vor Geisteskrankheit«).
Wenn die Pathologie tiefer geht, wird der Verstand von Argentum immer unzuverlässiger.
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