Psychologische Homöopathie
schon bald etwas von seinen Theorien und Meinungen. Kalium und Lycopodium sprechen auch gerne über ihr Wissen, aber sie tun es weitaus trockener und nüchterner als Sulfur, der es sichtbar genießt, seine Begeisterung mit jedem zu teilen, der bereit ist, ihm zuzuhören. Für den intellektuellen Sulfur haben Ideen etwas Inspirierendes, auf ganz ähnliche Weise wie für ein Kind, das zum ersten Mal damit in Berührung kommt. Inhaltlich kann es dabei um alles mögliche gehen, von der Struktur des Universums bis zu der Frage, wie man einem Tennisball den richtigen »Dreh« versetzt. Gleich welche Idee dem Sulfur-Menschen gefällt, sie wird seinen Geist beflügeln, und er wird sie schätzen und versuchen, sie anderen schmackhaft zu machen. Diese können jedoch häufig Sulfurs Begeisterung nicht teilen und wundern sich, wovon er so fasziniert ist.
Der Sulfur-Verstand neigt dazu, sich intensiv in das zu vertiefen, was ihn interessiert, und zwar mit einer Leidenschaft, die den betreffenden Menschen immer weiter zum Verständnis der Gesamtheit des Themas mit all seinen Verzweigungen und Unklarheiten treibt. Infolgedessen zeigt Sulfur im Hinblick auf seine Lieblingsthemen oft ein erstaunlich detailliertes Wissen, das vor allem bei solchen Sulfur-Typen überrascht, die nur eine geringe Ausbildung genossen haben und, wie so viele, Autodidakten sind.
Kent gibt in seinen Vorlesungen zur homöopathischen Arzneimittellehre eine schöne Beschreibung von Sulfurs fast fanatischer Methode, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er schreibt: »Sulfur bewährt sich bei Menschen, die ständig auf der Suche nach der letzten Ursache aller Dinge sind. Es hat einen Patienten geheilt, der nichts tat, als darüber nachzudenken, was die Ursache für dieses und jenes sei, schließlich alles bis zur göttlichen Schöpfung zurückverfolgte und dann fragte: »Und wer schuf Gott?«
Im allgemeinen interessiert sich Sulfur mehr für das große Ganze als für die Details (was typischer für Kalium carbonicum und Arsenicum ist). Der Genius Einsteins ist ein gutes Beispiel. Einstein war als Schüler eine Niete in Mathematik, wahrscheinlich weil er keine Lust dazu hatte, Rechenaufgaben um ihrer selbst willen zu lösen. Als er später jedoch über die Zeit, den Raum und die Struktur des Universums nachdachte, widmete er sich seinen Berechnungenmit großer Entschlossenheit und Genauigkeit. Das weist auf einen anderen sehr charakteristischen Zug von Sulfur hin, der seine persönlichen Interessen leidenschaftlich verfolgt, aber was ihn nicht interessiert, einfach links liegenläßt. Es ist fast unmöglich und nicht der Mühe wert, Sulfur dazu zu bewegen, daß er etwas tut, wozu er keine Lust hat, und wenn er sich doch dazu aufrafft, dann tut er es so halbherzig, daß er besser gar nicht damit angefangen hätte. (Ehefrauen und Eltern von Sulfur-Menschen wissen das nur zu gut.)
Sulfur-Menschen sind weit mehr als andere Typen geistige Visionäre. Ihnen geht es um die umfassendere Bedeutung neuer Kenntnisse, und gewöhnlich tun sie ihr Bestes, um ihre Vision zu verbreiten und zu realisieren. Der amerikanische Dichter Walt Whitman war ein gutes Beispiel für den visionären Sulfur. Er schrieb über das gemeine Volk, die Arbeiter, ihre Frauen und Kinder und ihren Alltag, und doch glorifizierte er sie gleichzeitig. In echter Sulfur-Manier ließ sich sein expansiver und optimistischer Geist inspirieren von den Wellen des Fortschritts, die den amerikanischen Kontinent in der Mitte des 19. Jahrhunderts überrollten. Daraus entstand Ich singe den Leib, den elektrischen , eine erhebende und leidenschaftliche Hymne auf das gemeine Volk, seine unerschöpfliche Energie und die glorreiche Zukunft, die es durch die industrielle Entwicklung und neue Technologien gestalten würde. Whitman glaubte, die Menschheit könne durch neue Technologien und wissenschaftlichen Fortschritt von Armut und Knechtschaft befreit werden, aber er sah nicht voraus, welche entsetzliche Langeweile und geistige Armut ein industrialisierter, materialistischer Lebensstil mit sich bringen würde. Wie die meisten Sulfurs war er von seiner wunderbaren Vision völlig eingenommen und dachte nicht an die Kehrseite.
Ich glaube, es ist symptomatisch für unsere Zeit, daß wir nicht mehr so viele Sulfur-Anführer haben wie im letzten Jahrhundert. Visionäre und inspirierte Anführer wie Abraham Lincoln oder der intellektuelle Liberalismus der Whigs in Großbritannien stimmten mit den Erwartungen der Menschen
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