Psychologische Homöopathie
kann wie der Gram von Natrium und Nux vomica. Ein älterer, außerordentlich exzentrischer Herr suchte mich einmal auf, weil er mich um Hilfe für seine Frau bitten wollte, die seit Jahren unter Halluzinationen litt. Seine äußere Erscheinung war der klassische Sulfur – schlank, knochig und ungepflegt –, und er schleppte ein altes, zerfleddertes Notizbuch mit sich herum, auf dessen Seiten er Telefonnumrnern, Adressen und andere lebenswichtige Informationen gekritzelt hatte (Sulfur-Menschen kritzeln oft irgendwelche Ideen auf Zettel, die sie aber in den meisten Fällen verlieren). Während ich mit dem alten Herrn sprach, begann er bitterlich zu weinen, als er den Zustand seiner Frau beschrieb. Dann verwandelten sich seine Tränen plötzlich in Wut, als er mir mit zusammengebissenen Zähnen berichtete, seine Schwiegertochter habe seine Frau verhext, und das sei die Ursache ihrer Halluzinationen. Er nannte sie eine »Tochter des Teufels« und schwor, wenn er könnte, würde er sie zur Hölle schicken. Seine Wut stand in einem bemerkenswerten Kontrast zu der freundlichen Art, mit der er sonst sprach. Wie viele ältere Sulfurs war er ein religiöser Mann, und er weinte, als er über seine Befürchtung sprach, auch er könne als Ehemann einer besessenen Frau verflucht sein. (Kent: »stöhnt vor Verzweiflung. Er denkt, durch seine Sünden habe er den Tag der Gnade verspielt.«)
Der ältere, exzentrische Sulfur redet oft so sprunghaft, daß der unerfahrene Homöopath ihn mit Lachesis verwechseln kann. Wie dieser springt er von einem Thema zum anderen (Kent: »wechselt Thernen«), aber er spricht imallgemeinen langsamer als ein geschwätziger Lachesis. Beide Typen springen von einem Thema zu einem anderen, das irgendwie einen Bezug zum ersten hat, aber dieser Bezug kann ziemlich oberflächlich und ohne Bedeutung für das ursprüngliche Thema sein. Der gestreßte Sulfur-Ehemann sagte beispielsweise: »Mein Vater war ein Eisberg, kein Eismann. Er rief nicht ›Eis!‹ oder ›Fisch!« (Er stellte kleine dramatische Szenen wie diese dar, indem er mit seinen Händen einen Trichter vor dem Mund bildete und in den Raum hineinrief, so als sei er wirklich ein Eis- oder Fischhändler.)
Viele ältere Sulfurs verbringen viel Zeit mit Selbstmitleid. Wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt, liegen sie einem mit traurigen Geschichten über ihre zahlreichen Mißgeschicke in den Ohren, in denen sich so viel Selbstmitleid ausdrückt, daß es kindisch wirkt. Wie ein Kind ist vor allem der ältere Sulfur unfähig, Unglück zu akzeptieren, und gibt dann meist anderen die Schuld, um seine Frustration abzubauen. Ob der geschwätzige Sulfur nun ärgerlich ist oder nicht, er neigt jedenfalls dazu, immer weiterzureden ohne Rücksicht darauf, ob der Zuhörer Interesse zeigt oder nicht.
Natürlich ist der ältere Sulfur meist vergeßlicher als früher. Vor allem vergißt er die Namen von Leuten. Selbst jüngere Sulfurs haben oft ein schlechtes Namensgedächtnis. Sobald man ihnen jemanden vorgestellt hat, ist der Name schon wieder vergessen. Das müssen sie dann entweder vertuschen oder später noch einmal nachfragen. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß Sulfur sich gerne als den Nabel der Welt betrachtet und andere Menschen ihm deshalb unwichtiger erscheinen, etwa so wie Statisten im Vergleich zum Hauptdarsteller.
Einige intellektuelle Sulfurs werden im Laufe der Jahre immer zynischer. Ich habe einmal mit einem Sulfur-Arzt zusammengearbeitet, der ursprünglich enorm idealistisch gewesen war und viel über spirituelle Fragen geschrieben hatte. Nachdem ich eins seiner Bücher gelesen hatte, wollte ich ihn gerne kennenlernen, aber dann mußte ich feststellen, daß er seine spirituellen Interessen völlig aufgegeben hatte und ebenso verlegen wie zynisch reagierte, wenn man ihn darauf ansprach. Früher hatte er als Homöopath praktiziert, aber auch das aufgegeben, und seine ehemalige Begeisterung hatte sich in Unglauben verwandelt. Er war immer noch hochintelligent und diskutierte gerne über neue wissenschaftliche Erkenntnisse, aber ich war überrascht, wie zurückgezogen und einsam er wirkte. In seinen Augen war nichts von der Leidenschaft zu sehen, die man normalerweise bei Sulfur findet, und doch bestätigten mir seine Erscheinung, seine intellektuelle Tiefe und Breite und seine etwas reservierte Art, daß er konstitutionell Sulfur war.
Ich habe seitdem Sulfur-Patienten kennengelernt, die nach einem schweren Leben oder harten Zeiten viel
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