Psychologische Venentherapie
Krampfader, und deshalb saugen sie Wasser an, bis sie davon zerplatzen. Dadurch wird die Innenschicht rau, wie ausgetrocknet. Dieser Vorgang führt dazu, dass die Krampfader in ihrem Inneren offen ist, ein Alarmsignal für den Körper. Seine erste Reaktion: Er löst die Bildung einer Thrombose aus, die die Ader verschließt und für das Immunsystem des Körpers als Fremdkörper erkennbar macht. Von nun an kann er sich an der Ader als Baustoff bedienen, bis sie nach und nach verschwindet.
Dieser Mechanismus ist es, der Paul Linser bei der Entwicklung einer Verödungsmethode interessiert. Er möchte die Krampfader nicht chemisch schädigen mit einer Arznei, die vielleicht dort verbleibt (bei Polidocanol wird der Schaum in den Zellen gespeichert und kann über viele Jahre im Gewebe verbleiben) oder wie Quecksilber in andere Körperregionen verschleppt und in den Organen, in denen sie abgebaut wird, Schädigungen hervorrufen kann. Deshalb ist der Vorschlag seines Assistenten Karl Linser, lieber Kochsalz zu nehmen, so genial, wie er sogleich erkennt. Vielleicht der Not der Stunde geschuldet, aber auch aus physiologischer Sicht ein Riesenfortschritt bei der Behandlung von Krampfadern. Die Frage ist nur: Wie hoch muss dieses konzentriert werden, um ähnlich effektiv zu sein wie Quecksilber oder Phenol? Erste Versuche werden mit einer 10%igen Kochsalzlösung gemacht, die aber oft nicht ausreichend wirkt (oft aber doch, wie ich vielfach festgestellt habe – weshalb es sinnvoll ist, mit dieser Konzentration die Behandlung neuer Patienten zu beginnen). Man kann damit durchaus kleinere Krampfadern bei jüngeren Personen entfernen, aber gerade bei den großen, festen, schlauchartigen Adern, mit denen die meisten Patienten – die auch schon etwas älter sind – aufwarten, reagieren darauf weniger stark. Man braucht also in vielen Fällen höhere Konzentrationen davon. Aber wie macht man das?
Wenn man einen großen Kochsalzbrocken in Wasser gibt, entsteht daraus etwa eine 18%ige Lösung. Wie hoch lässt sich aber Kochsalz überhaupt in Wasser konzentrieren? Versuche zeigen, dass man in kochendem Wasser maximal eine 27%ige Kochsalzlösung erreichen kann. Manches davon fällt beim Abkühlen wieder aus. Mischt man allerdings Salzsäure und Natronlauge, dann entsteht ebenfalls Kochsalz und Wasser, und bei dieser Herstellung ist die Lösung stabiler.
Die 27%ige Kochsalzlösung wird von den 1930er Jahren an von Paul Linser und von seinem späteren Nachfolger, Prof. Dr. Wilhelm Schneider, routinemäßig in der Krampfadertherapie eingesetzt. Insgesamt behandelt die Uniklinik Tübingen zwischen den 1920er und 1960er Jahren 70.000 Patienten mit der Kochsalztherapie. Zahlreiche niedergelassene Kollegen schließen sich diesem Vorgehen an, so dass man schätzt, dass mehr als 100.000 Patienten damals mit Kochsalz behandelt worden sind. In seinem Vorwort zur dritten Auflage des Buchs „Moderne Therapie der Varicen“ schreibt Schneider, der sein Arbeitsleben lang die Kochsalztherapie propagiert hat: „Die Verödung varicös entarteter Venen mit Kochsalz hat sich weitgehend durchgesetzt“.
Diese Aussage ist vielleicht etwas zu optimistisch. Die Kochsalztherapie leidet in den 1960er Jahren darunter, dass sich die Bedingungen, unter denen eine Injektion durchgeführt wird, noch lange nicht verbessern. Die Nadeln sind immer noch viel zu groß, und die Spritzen klobig. Es ist schwierig, die überaus empfindlichen Krampfadern, die leicht platzen, mit diesen Materialien effektiv zu behandeln. Besser ist es da offenbar doch, bei so vielen Fehlinjektionen mit Polidocanol zu arbeiten, das zwar das Gewebe reizt und verhärtet, aber eben kein Geschwür hervorruft, wenn man daneben gestochen hat. Die Erfindung des Butterflys – einer Nadel, die mit einem Katheter verbunden ist und an Flügeln gehalten werden kann und durch ihre Beschaffenheit einen stark modifizierten Einstich erlaubt - wie auch die Entwicklung dünner Kanülen, die nur mehr Bruchteile eines Millimeters umfassen, bringt dann in den 1960er Jahren einen Fortschritt, der leider von Tübingen nicht mehr mitgenommen werden kann.
Professor Schneider ist längst im Ruhestand, und sein Nachfolger hat ein anderes Interessengebiet als die Krampfadern. Auch sonst ist da bundesweit keiner an der Universität, der sich der Behandlungsmethode widmet und sie unter den Kollegen verbreitet. 1955 schreibt Prof. Schneider noch: „Dem Kochsalz wird in der Literatur vielfach zur
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