Psychologische Venentherapie
Versuche sind dann aber so eindrucksvoll, dass in der Klinik fortan nur mehr Kochsalzlösung zur Verödung von Adern verwendet wird. Während Karl Linser dann aber bald längst über Breslau, Wien und Paris akademische Karriere macht, bleibt Tübingen die Hochburg der Kochsalztherapie. Karl Linser erzielt aber trotzdem weiterhin gute Einkünfte durch die zunehmende Verwendung von Kochsalzlösung in der Dermatologie. Er hat sich unter dem Namen Varicophtin eine Lösung von 20%igem Kochsalz in Verbindung mit Procain patentieren lassen. Procain ist ein Lokalanästhetikum, das die Schmerzen bei dem Einspritzen vermindern soll. Dieser Zusatz zur Kochsalzlösung wird auch heute noch von manchen Ärzten, die die sanfte Krampfadernentfernung nutzen, verwendet. Varicophtin setzt sich in den 1920er Jahren rasch durch und wird in kurzer Zeit von vielen Ärzten angewandt. Es ist jene Zeit, in der Hunderttausende Patienten mit Krampfadern mit dieser Methode behandelt werden. Die „Roaring Twenties“ sind eine Boomzeit, in der Menschen offen für Veränderungen sind. Dazu gehören auch viele Frauen mit Krampfadern, die schöne Beine haben wollen und sich deshalb vertrauensvoll in die Hände von Therapeuten begeben, die den Anforderungen der Methode nicht gewachsen sind. Es ist der erste Boom von Beauty und Wellness. Doch so wie das heute auch bei der Schönheitschirurgie vielfach der Fall ist, erleben manche eine herbe Enttäuschung durch Fehlinjektionen, müssen sich mit Geschwüren herumschlagen, die nur mühselig abheilen und hässliche Narben hinterlassen. Weil es zu viele Ärzte gibt, die sich dem neuen Trend verschrieben haben, ohne eine gründliche Ausbildung vorweisen zu können. Weil sie mit den Injektionsmaterialien nicht umgehen können. Es gibt deshalb bald einige Stimmen, die sich kritisch über die Kochsalztherapie äußern. Viele Ärzte, die es versucht haben, sind sehr enttäuscht. Sie haben die Methode im Rausch des Augenblicks angewandt und damit Komplikationen gehabt. Im Grunde genommen reicht eine einzige Fehlinjektion ja durchaus aus, nach der Therapeuten hilflos dastehen und nicht mehr weiter wissen. Leider gibt es zu diesem Zeitpunkt niemanden, der auf die Idee verfällt, durch Verdünnung mit physiologischer Kochsalzlösung den Schaden gleich im Ansatz abzuwenden, so dass es sehr häufig diese Probleme gibt. Denn wer hochprozentige Kochsalzlösung lange mit physiologischer Kochsalzlösung mischt, erreicht bald harmlose Konzentrationen. Auch die Dosierung der Arznei wird damals nur wenig besprochen oder gelehrt, und dass man bei vielen Menschen auch mit 10%iger Kochsalzlösung gute, wenn nicht sogar bessere Resultate erzielen kann, bleibt zumindest in der Literatur unbekannt. Wahrscheinlich war es damals wie auch heute so, dass manche Ärzte durch stetes Bemühen und langjährige Erfahrung mit vielen hunderten von Patienten zu Experten herangereift waren, die viel gefragt waren, währen das Gros der Kollegen sich bald mangels Erfolgen anderen Betätigungen zuwandte.
Wussten denn die Kochsalztherapeuten, was sie taten, dass sie eigentlich ein tiefgreifendes Heilmittel an der Hand hatten? Die Literatur gibt keinen Aufschluss darüber. Dass sich so viele Menschen behandeln ließen, zeigt aber, dass die Methode nach Professor Linser als angenehm empfunden wurde, als eine medizinische Lösung, die der Operation weit überlegen war. Dafür ist ihre psychologische Bedeutung verantwortlich. Auch heute noch ist es so, dass die Operation von Krampfadern, der chirurgische Eingriff, bei den Menschen vor allem die Erinnerung an Beschwerden hinterlässt, die man dabei oder danach hatte. Der Schmerz beim Einfließen der Kochsalzlösung hingegen und die manchmal stattfindende Entzündungsreaktion in den ersten Tagen nach der Behandlung wird rasch wieder vergessen. Warum ist das so? Weil der „Schmerz“ vielleicht eher als „Wirkung“ beschrieben werden muss. Als Aufbrechen der seelischen Strukturen, wie bei einem Salzbrocken, der von Wasser umspült wird. Die therapeutische Wirkung der Kochsalzlösung geht weit über die konkreten Vorgänge in der Vene hinaus, ist ein kathartisches Erlebnis der Befreiung und Krampflösung im seelischen Bereich.
Wenn es eine ungebrochene Tradition dieser sanften Therapieform gegeben hätte, wäre diese Form der Psychotherapie vermutlich schon viel früher beschrieben worden. Leider gerät die Methode nach und nach in Verruf wegen Fehlinjektionen, die zu Geschwüren führen.
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