Psychotherapeuten im Visier
psychotherapeutischen Ethos, das gleichsam in den eigenen Konventionen gefesselt ist. Es gibt keine wirklich ernst zu nehmende psychotherapeutische Avantgarde, es gibt keine neue Generation von Tabubrechern. Aber genau darauf warten die unter Depressionen leidenden Patienten schon so lange. Sie wünschen sich keinen therapeutischen Messias, sie wünschen sich zu Recht Klarheit und Perspektiven – sie wünschen sich Zuversicht, Kompetenz und die Nachricht über engagierte Forschungsvorhaben zur Depression mit großzügiger Mittelausstattung ohne ideologische Scheuklappen, ohne das borniert Verhaftete in therapeutischen Schulen, die teilweise fast Sektencharakter angenommen haben. Die Menschen sehnen sich nach der emotionalen und habituellen Botschaft, sicher und gut aufgehoben zu sein, ohne jede Irritation in diesem für den Kranken so sensiblen Umfeld. Wer die unzähligen Ärzte-Fernsehserien gesehen hat, kann sich im eigenen Krankheitsfall ein Bild von all dem machen, was ihn ihm Krankenhaus erwartet. Nicht immer ist der Alltag dann so glamourös wie im Fernsehen dargestellt, aber die Assoziation Krankenhaus – das ist den Regisseuren und Marketingberatern
gelungen – hat etwas irgendwie Vertrautes, strahlt Kompetenz, Schnelligkeit und auch Empathie aus. Immer wenn jemand aus dem Fach Psychiatrie oder Psychologie in einer solchen Sendung auftritt, soll er, soll sie die Karikatur des Berufsstandes abgeben. Ausnahmen sind selten. Dass die Psychotherapeuten die höchste Dichte an Karikaturen besonders in den eher intellektuell ausgerichteten Medien aufweisen, scheint auch seit vielen Jahren die Zunft nicht zur Einsicht zu bewegen. Nur: Wer zu spät kommt, den bestraft irgendwann eine ganz neue, eine ganz andere Generation von Patienten und hoffentlich auch von jungen, klischeefrei denkenden und handelnden Therapeuten – ohne alle Fesseln therapeutischer Konventionen und Marotten. Es wäre ein Befreiungsschlag!
Von 1908 bis 1915 arbeitete Karl Jaspers als Arzt und Psychiater an der Universitätsklinik in Heidelberg, ehe er sich – mit biografisch sehr viel größerem Erfolg – der Philosophie zuwandte. Bis zu seinem Tod 1969 lehrte er in Basel und gilt als Hauptvertreter der Existenzphilosophie.
Als junger Psychiater hat Karl Jaspers einmal in kleiner Runde vor ärztlichen Kollegen gesagt: »Die Psychiater müssen denken lernen!« Diese Äußerung war im Ansatz eigentlich wohlmeinend, weil Jaspers erkannt hatte, wie unübersichtlich das Agieren der Psychiater zu seiner Zeit war – heute würde man sagen, das geschilderte Bild der Psychiatrie war schlicht chaotisch. Jaspers wollte nur methodisch ganz konkret und konstruktiv ordnend wirken. Der Kommentar eines Psychiaterkollegen zu dieser Bemerkung in der Gesprächsrunde soll gewesen sein: »Man muss den Jaspers verprügeln. «
Auch wenn dieser Einwurf vielleicht nicht ganz ernst gemeint war, so wirft er doch einen Blick auf die therapeutische
Szene, in der sich bis heute trotz wesentlicher Entwicklungsschritte nichts wirklich verändert hat. Dass es nie wieder einen Nobelpreisträger in der Fachrichtung Psychiatrie gegeben hat, ist zwar kein Indiz für wissenschaftlichen Stillstand, aber lässt doch zumindest die Frage zu, woran es wohl liegen mag, dass sich seit der Einschätzung von Karl Jaspers bis heute – also nach etwa 100 Jahren – so sehr viel am Zustand der Psychiatrie nicht geändert hat? Mindestens 500 nicht wirklich evaluierte Therapieverfahren, kaum Forschungserfolge, viele Versprechungen, aber wenige Ergebnisse und häufiges therapeutisches Handeln, das ich nur als intellektuell-skurrile Antiquität bezeichnen kann.
Wer in diesen Tagen mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wird, einem notwendigen Bypass entgegensieht oder wegen einer geplanten Krebsoperation, kann erwarten, über einen abschätzbaren Zeitrahmen der Behandlung informiert zu werden. Das ist im Falle der Behandlung einer Depression noch immer nicht der Fall – und die Gründe liegen auf der Hand.
Wer als chirurgischer Patient in einer Tumorkonferenz über die notwendigen Behandlungsschritte eingeschätzt, begutachtet und gleichsam von allen medizinischen Seiten betrachtet wird, ehe es dann im Konsens zur endgültigen Behandlungsstrategie kommt, erfährt die geballte Kompetenz der anwesenden Ärzte. Ein Dutzend Augen oder mehr sehen nun einmal mehr als zwei und der Beitrag von multipler gestandener klinischer Erfahrung schränkt das Risiko, dass einzelne
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