Psychotherapeuten im Visier
Ferkel sind, im Gegenteil, hochinteressante Individuen. Warum lieben Kinder kleine Ferkel so sehr und warum auch das ausgewachsene Schwein? Weil das Verhalten, die Körpersprache und auch die Hautfarbe so sehr kleinen Kindern ähneln, ihr hilflos-schüchterner Blick gleicht dem eines Dreijährigen. Ihre ungelenken und etwas tapsigen Bewegungen, die so unnachahmlich ganz direkt unser Gemüt ansprechen wie der Blick eines verunsicherten Kleinkindes, rühren uns an – das geht uns bei jungen Affen nicht anders als bei Tigern oder Nashörnern und auch bei kleinen Krokodilen, denen wir in ausgewachsenem Zustand besser nur im Zoo hinter Glas begegnen wollen. Erwachsene Schweine dagegen bleiben immer irgendwie sympathisch – sie agieren zielgerichtet genau so wie die meisten Menschen: Erpicht auf das Futter und ansonsten friedlich und genügsam. Wenn das Grundbedürfnis Hunger gestillt ist, wird das Schwein nicht aggressiv. Das unterscheidet es in seinem Verhalten eindeutig vom Menschen.
Ferkel und Schweine werden gründlich unterschätzt. Jung und Alt sind nicht nur sehr sympathische Wesen, sie sind vor allem so wunderbar feinfühlig – »sensibel« würde auch schon wieder eine ungerechte Stigmatisierung bedeuten – und sie sind sprachbegabt. Schweine, die Tiere also, die wir in Europa
als Hausschweine bezeichnen, bieten eine großartige Artenvielfalt, weit größer als die in den zugehörigen Nationalitäten. Und wenn wir ein Schwein zur Gattung der Hängebauchschweine zählen, dann sollten wir das auch bei den Hängebauchmenschen tun und nicht verlogen-versöhnlich nur von einer Wampe oder einem Pilsgeschwür sprechen. Das Schimpfwort »Du fettes Schwein« ist übrigens besonders fehl am Platz. Ein Schwein, das in freier Natur auf einem traditionellen Bauernhof zu einem lecker-fetten Bioschwein heranwachsen darf und nicht schnell zu einem Turboschwein gemästet wird, ist das Köstlichste, was ich als Fleischgericht je zu mir genommen habe – vor allem auf dem Lande in Frankreich und Italien, wo es Regionen gibt, in denen der Begriff »Fleischindustrie« noch verpönt ist. Dazu fallen mir die Wortschöpfungen »Therapieboom«, »Medizinindustrie« und auch »Zielvereinbarungen für abzuleistende Operationen im Krankenhaus« ein – ja, soll sich der leitende Chirurg die Patienten von der Straße holen? Es ist absurd, solche ökonomisch diktierten Zielvereinbarungen mit den Ärzten zu verhandeln – das sind doch Drückermethoden der schlimmsten Art!
Wir wissen heute sehr genau, wie man Schweine so halten kann, dass sie ein artgerechtes, würdiges Leben führen können. In Italien habe ich gerade eine Hausschlachtung erlebt. Das geschlachtete Schwein wurde an der Astgabel einer mächtigen Eiche, den Kopf nach unten, zum Ausbluten und Ausweiden aufgehängt. Welche Symbolik! Das Blut wurde in einer großen Wanne aufgefangen – ich durfte es in diesem Zustand, noch warm, probieren, voller Vorfreude auf die Blutwurst, die daraus noch am selben Abend hergestellt wurde. Die holländischen Maler des 16. und 17. Jahrhunderts haben immer wieder den ausgeweideten Tierkörper eines
Schweins gemalt: als Symbol der Würde, als Hommage an die Kreatur, die im Tod nicht zu einem Produkt wird, sondern eine letzte Verehrung erfährt. Noch immer gibt es Regionen in Italien – dort erlebe ich es in aller unverfälschten Natürlichkeit – , wo ganze Tierkörper, Rinder, Schweine, Ziegen, gekühlt hinter Glasscheiben beim Metzger hängen, sodass sie jeder Kunde vor dem Zerlegen noch einmal als wirkliches Tier und nicht nur als kaum definierbares Fleischprodukt erleben kann. Diese so ganz unmittelbare Begegnung mit der Kreatur macht andächtig und demütig, sie zollt dem Tier Respekt, auch wenn wir es dann irgendwann seiner Bestimmung gemäß verspeisen. Wer ein geschlachtetes, totes Tier so erlebt, geht auch sprachlich mit einem Schwein anders um und benutzt seinen Tiernamen nicht achtlos als Schimpfwort. Ist doch das Schwein besonders sprachgewandt. Wenn wir seine Lautmalerei als Grunzen abtun, dann zeigen wir damit nur unsere Unkenntnis. Natürlich grunzt das Schwein, aber dann grunzt der Mensch auch, nur das trauen wir uns nicht zu sagen. Wenn heute viele Schüler die Frage, ob der Hals einer Giraffe zwei Meter, zwei Kilometer oder zwei Zentimeter lang ist, weder verstehen noch beantworten können, dann kann ich das nur als intellektuell undifferenziertes Grunzstammeln abqualifizieren. Aber damit tue ich der kommunikativen
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