Puck
Ich glaube nicht einmal, daß die Durchhalter selbst an den Quatsch glauben, den sie verzapfen.«
»Und warum tun sie’s dann doch?« wollte die Gefährtin wissen.
»Weil diesen Scheißkerlen klar ist, daß man sie sonst an die nächste Laterne hängen würde.« Er unterbrach sich, sah mich mit zusammengekniffenen Augen an: »Sag mal, was ist eigentlich mit dir los?«
»Wieso?«
»Du siehst zum Umpusten aus. Wieviel wiegst du denn?«
»So ungefähr hundertachtundsechzig, ohne Kleider.«
»Neuerdings gewogen?«
»Nein. Ich hab’ ganz andere Sorgen.«
Er wurde sehr nachdenklich: »Ich weiß, daß du vollkommen ausreichend ernährt wirst. Oben bei Lucius’ haben sie eine Waage. Komm mal mit.«
»Aber Frau Lucius...«
»Aha! Die hübsche Frau Lucius. Keine Angst, sie wird uns nicht stören, keuscher Josef.« Im Bad oben kommandierte er: »Lumpen ‘runter.« Ich kletterte auf die Waage. Er sah auf den Zeiger, sah mich an: »Hundertsiebenundzwanzig. Du hast in drei Wochen vierzig Pfund abgenommen.«
»Aber ich fühle mich ganz wohl!«
»Ich werde dich untersuchen. Jedenfalls könntest du als Plakat für >Hunger in Indien< oder so was gehen.«
Unten in meinem Zimmer untersuchte er mich, schob dann kopfschüttelnd sein Stethoskop zusammen: »Das Herz geht einigermaßen. Die Galle ist etwas empfindlich, aber nicht sehr, die Leber geschwollen — schon etwas mehr. Der ganze Prozeß scheint erst nach dem Angriff damals eingesetzt zu haben, denn als ich dich traf, warst du zwar ein Nervenbündel, aber wohlgenährt — einschließlich Doppelkinn und kleinem Bierbauch. Hast du Ärger im Büro?«
»Nicht mehr als sonst. Man gewöhnt sich daran, Gift zu atmen.«
Er stand mühsam auf: »Irrtum. Typen wie du sind vom Zentralnervensystem her gefährdet, besonders durch seelische Dauerbelastungen. Aber das reicht nicht aus für einen so rapiden Verfall. Wenn ich bloß wüßte — ich hab’ die Lösung irgendwo ganz hinten im Kopf, das fühle ich. Aber mein Schädel ist so müde.« Er sprach mit der Gefährtin: »Ich werde ihm Zusatz-Lebensmittelkarten verschreiben. So, und jetzt muß ich weiter. Morgen wird übrigens meine Praxis fertig. Es zieht zwar noch durch ‘n paar Löcher in den Wänden, und wenn der Hannes nicht so’n Jammergebilde wäre, hätte ich ihn zum Pappenageln ermuntert — aber es geht auch so. Dann seid ihr mich endlich los.«
»Du kommst doch aber weiter zu uns?« fragte die Gefährtin.
»Sooft ich kann.«
Sobald er das Zimmer verlassen hatte, war Puck bei mir auf der Couch. Er roch mich sorgfältig ab, leckte mir Hand und Gesicht und kringelte sich am Fußende zusammen. Dort begann er seine rosa Zehen und die rissigen Ballen knackernd zu bearbeiten und warf zwischendurch immer wieder einen aufmerksamen Blick auf mich.
Er bestand auch darauf, mich jedesmal, wenn ich ins Büro ging, bis zur Straßenbahn zu begleiten. Zum Radeln fühlte ich mich zu schwach. In der Redaktion wurde man allmählich aufmerksam. Man bot mir Brote und Bohnenkaffee an, und mitunter, wenn ich unschlüssig vor einem Haufen Manuskripte saß, geschah es, daß jemand sie mir wegnahm: »Gib mal her, das mach’ ich schon. Warst du eigentlich mal beim Arzt?«
Ich nahm das alles nur am Rande wahr. Die ganze Umwelt erschien mir so, als betrachte ich sie durch ein umgekehrtes Fernglas. Nur Puck blieb lebendig in mir. So schwach ich mich fühlte — jeden Abend, wenn ich aus dem Büro kam, machte ich mit ihm einen Spaziergang durch unser kleines Reich. Wir besuchten den Tennisplatz, der jetzt verwaist und von Ruinen umkränzt war, fanden sogar einmal einen uralten Ball in einem Gebüsch. Die Straßen waren gesäubert, die Trümmer in ordentlichen Haufen aufgeschichtet. Man hatte die Katastrophe organisiert. Selbst in der Laubenkolonie erwachte wieder etwas Leben. Aus Trümmern, Dachpappe und Brettern hatte man schon einige Häuschen aufgebaut, und sogar einen Karnickelstall gab es wieder, vor dem Puck anbetend saß und sich zwischendurch die Lefzen leckte. Der alte Jansen schilderte mir ausführlich, wie er bei seiner Dienststelle Pakete mit Nägeln geklaut und dafür Holz und Maschendraht eingehandelt habe.
Es war aber nicht das frühere Leben in der Kolonie. Es kroch nur so herum, als habe man ihm das Rückgrat gebrochen — genau wie ich mich fühlte. Nur Puck genoß sein Leben zunehmend, da Herrchen immer häufiger zu Hause blieb und die Angriffe auf sich warten ließen.
Oft, wenn wir zusammen auf meiner Couch lagen,
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