Puerta Oscura - 01 - Totenreise
Daphne weitere rätselhafte Zeichen, die sie nicht deuten konnte. Außerdem schlief sie schlecht. Wie war die geheimnisvolle Reise dieses spanischen Jungen zu verstehen? Würde er etwa bald sterben? Würde sich in Paris etwas Übernatürliches ereignen? Auf ihren Streifzügen durch die Winkel der Stadt konnte sie eine große Energie spüren. Schon lange war sie nicht mehr so unruhig gewesen.
Auch heute war sie wieder unterwegs. Es wurde schon dunkel und die Kälte machte sich bemerkbar. Daphne hüllte sich fest in ihre weiten, bunten Kleider, in denen sie bei den Fußgängern, die ihr begegneten, wie stets verwunderte Aufmerksamkeit erregte. Sie überquerte gerade den Place Joachim du Bella y, mit seinem Brunnen der Unschuldigen in der Mitte, als plötzlich lautes, klägliches Kinderweinen erklang, das in der Weite des Platzes laut widerhallte. Das Weinen steigerte sich zu durchdringenden Schreien, die beinahe die Fensterscheiben der umliegenden Gebäude zum Bersten brachten. Der Himmel hatte währenddessen eine purpurne Färbung angenommen, und die Wolken wurden von einem kräftigen Wind getrieben.
Erschrocken blieb Daphne stehen. Sie drehte sich einmal um sich selbst und suchte nach der Richtung, aus der die Schreie kamen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken, kein Kind war in der Nähe. Wer schrie da nur? Und was noch erschreckender war: Warum bewegten sich die wenigen Passanten um sie her, als wäre nichts geschehen? Warum reagierten sie nicht auf das Weinen, das über den Platz hallte? Womöglich sahen und hörten die Leute nichts, was nur bedeuten konnte, dass das, was sie vernahm, nicht von dieser Welt war, dass nur eine Person mit übersinnlichen Fähigkeiten es wahrnehmen konnte.
Daphne war alarmiert. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Sie war eine mutige Frau, doch nun griff sie nach dem schützenden Amulett, das sie stets um den Hals trug, und hielt es fest umklammert; sie hätte dem Spuk mit ihren Kräften gern ein Ende bereitet, doch war es für sie nicht ungefährlich. Schließlich würde sie damit offenkundig machen, unfreiwillig zur Zeugin dieses Vorgangs geworden zu sein. Und sie wusste nicht, was dahintersteckte …
Minuten vergingen, bis sie allein auf dem Platz war. Und nun geschah ein Zweites. Plötzlich stürmten Bilder auf sie ein, die sie schwindelig machten, die sie in Trance versinken ließen, und im Geiste reiste sie in eine andere Dimension von Paris.
Die Schreie der unsichtbaren Kinder wurden immer lauter, und das Echo ihrer hohen Stimmen erklang wie in Wellen. Daphne, die wie gelähmt war, spürte jetzt ein heftiges Beben unter ihren Füßen, und ein paar Sekunden später bildeten sich in der Mitte des Platzes, vorbei an dem Brunnen der Unschuldigen mit seinen Stufen, tiefe Risse, wie bei einem Erdbeben.
Sie wurden breiter und breiter, und endlich gaben sie den Blick auf ein unerwartetes Bild frei: Grabsteine und Knochen. Daphne erbleichte, und ihr fiel wieder ein, dass dieser Platz sich über einem alten Friedhof befand, der vor über zweihundert Jahren geschlossen worden war. Wie konnte sie das nur vergessen?
Die Schreie wurden noch lauter, doch Daphne nahm sie kaum mehr wahr, mit weit aufgerissenen Augen starrte sie jetzt den Brunnen auf dem Platz an, aus dem es trotz des heftigen Bebens noch immer sprudelte. Es war Blut. Ein zäher roter Strom, der über die Treppenstufen hinablief und sich weit ringsum über den Boden ergoss.
Und jetzt konnte sie die weinenden Wesen sehen. Und zum ersten Mal erfuhr sie, was wirkliche Angst war.
***
Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, saß Pascal am Straßenrand und wartete mit abwesendem Gesichtsausdruck auf seine Freunde. Da er als Erster am Treffpunkt war, hatte er die Stöpsel seines iPod in den Ohren, doch er hörte dem Rap, der gerade lief, nicht zu.
Er nutzte die Wartezeit zum Nachdenken. Auch wenn die Begegnung mit der Wahrsagerin schon ein paar Tage zurücklag, drehten sich seine Gedanken noch immer um ihre seltsame Prophezeiung: eine Reise, die ihn zum Tod führen würde. Sollte das heißen, dass er auf irgendeiner Fahrt sterben konnte, womöglich bei einem Verkehrsunfall? Oder würde er vielleicht einem Toten begegnen? Und was hatte das mit Michelle zu tun? Wieso sollte sie überhaupt in diese Sache verstrickt werden?
Er seufzte resigniert. Das passte nicht zusammen, außer, sie war es, die sterben würde … Michelle tot? Pascal verwarf augenblicklich den Gedanken. Was für ein Unsinn!
Doch bei allem, was
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