Puerta Oscura - 01 - Totenreise
sofort, wonach sie suchte.
Ja, das war er, jetzt erinnerte sie sich. Groß, dünn, schwarz gekleidet und im Kontrast dazu ziemlich blass … Sie kannte den Jungen, der mit der Wahrsagerin ins Auto gestiegen war. Es war Jules Marceaux, der Gastgeber der Halloweenparty.
Waren denn sämtliche Gäste dieser verfluchten Party in diesen Fall verwickelt?
Sie musste ihre Überlegungen unterbrechen, denn Daphnes Wagen entfernte sich in eine unbekannte Richtung.
***
»Hier ist es«, sagte Jules, als er die Hausnummer auf dem Schild entdeckte, das an einem verrosteten und von wildem Efeu überwucherten Zaun hing.
Daphne parkte den klapprigen Wagen unter ein paar Bäumen und schaltete den Motor aus. Sie ließ die Scheinwerfer an, um sich in der Dunkelheit besser orientieren zu können.
Bevor sie aus dem Wagen stiegen, betrachteten sie einen Moment lang das zweistöckige Gebäude. Es war ein altes Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert, unbewohnt und in ziemlich heruntergekommenem Zustand. In der näheren Umgebung gab es sonst keine weiteren Häuser.
»Hier ist schon lange niemand mehr gewesen«, bemerkte Jules, während er den verwilderten Garten und die zersprungenen Fenster im Obergeschoss betrachtete. »Trotzdem ist das ein ziemlich abgefahrenes Gebäude. Ideal für ein Spukhaus. Jeder Regisseur würde sich einen Arm dafür abhacken, hier einen Gespensterfilm drehen zu dürfen.«
Er redete ununterbrochen, denn er hatte Angst.
»Bist du sicher, dass das hier die Adresse ist, die Pascal uns gegeben hat?«, zweifelte Daphne und unterbrach damit den Redefluss Jules’. »Dieses Abbruchhaus?«
Sie schüttelte den Kopf. Hier übernachteten bestimmt häufig Landstreicher. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier auch nur der geringste Gegenstand von Wert ist, geschweige denn ein Koffer mit drei wertvollen Artefakten.«
»Vielleicht hat sich aber auch gar niemand reingetraut«, flüsterte Jules, dem bei der Vorstellung, dass sie das Haus gleich betreten würden, ganz mulmig wurde.
Daphne schaute ihn an.
»Mit einem Spielfilm kann man das hier nicht vergleichen, nicht wahr?«
Jules nickte, ohne den Blick von der schmutzigen Fassade abzuwenden. Ein Vorhang wehte leicht aus einer der Fensternischen.
»Du hast recht, Daphne«, stimmte er zu. »Weißt du, ich mag Angst, aber nur in der Fiktion.«
»Das hier ist das wirkliche Leben.« Sie lächelte nun. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als hineinzugehen.«
Sie stiegen aus dem Wagen und nach wenigen Metern stießen sie das schmiedeeiserne Tor auf, das zum Garten führte. Die verrosteten Angeln quietschten, als das Gitter nachgab.
Einen Augenblick blieben sie stehen, weil sie plötzlich das deutliche Gefühl hatten, beobachtet zu werden.
»Das ist normal, dass es uns so vorkommt«, bemerkte Daphne. »Menschen reagieren intuitiv. Und wir wissen, dass ja wohl jemand im Haus ist.«
Jules überlief eine Gänsehaut. Sein hageres Profil verriet seine Anspannung.
Sie gingen bis zur Eingangstür, deren Flügel, vom Schmutz verklemmt, sich nicht öffnen ließen. Erst nach mehreren Versuchen gaben sie nach. Als sie endlich ins Haus gelangten, schalteten sie ihre Taschenlampen ein. Im Lichtstrahl entdeckten sie eine breite Treppe, die in den ersten Stock führte.
Daphne wollte hinaufgehen, doch Jules hielt sie am Arm zurück. »Pascal hat gesagt, dass sich der Koffer im Keller befindet«, flüsterte er ihr zu.
Daphne nickte und wandte sich zur Kellertreppe. Nichts war zu hören. Vorsichtig gingen sie Schritt für Schritt. Dann plötzlich, beim Betreten der ersten Stufe, wurde die Stille jäh zerrissen. Tausendfache Schreie ertönten. Ein kalter Wind fuhr durch das Haus, Türen knallten, Fenster barsten und Vorhänge flatterten im Wind.
Jules hatte nur noch einen Gedanken: Fort von hier!, doch Daphne packte ihn am Arm.
»Warte«, rief sie gegen das Getöse an. »Wir können nicht ohne den Koffer gehen. Lass dir keine Angst einjagen, das ist genau das, was der Geist bezweckt.« Sie zog ihn weiter die Treppe hinab; langsam ließ der Lärm nach. »Denk an etwas anderes, achte nicht auf das, was um dich herum passiert.«
»Das ist leicht gesagt …« Jules’ Stimme zitterte und sein blasses Gesicht war schweißüberströmt.
Langsam näherten sie sich dem Kellergewölbe. Unten angekommen, verharrten sie einen Augenblick. Dann auf einmal schlug unmittelbar vor ihnen eine Glastür zu und in der Scheibe sahen sie die schauerliche Spiegelung einer erhängten Frau, die sie aus
Weitere Kostenlose Bücher