Pulphead
the buzzards eat me whole.‹«
In der folgenden Strophe gibt es ein paar Wörter, die wegen Wileys Nuscheln oder wegen des starken, knisternden Rauschens abgenutzter 78-rpm-Schellacks unverständlich sind. Relativ deutlich kann man noch hören, dass sie »When you see me coming, look 'cross the rich man's field« singt, danach kommt etwas, das »If I don't bring you flowers / I'll bring you [a boutonnière?]« heißen könnte. Die Erwähnung einer Boutonnière, einer Ansteckblume, würde allerdings an Nonsens grenzen, besser gesagt: wirkt nicht gerade so, als hätte man dieses Wort in jener Gegend damals gekannt und benutzt. Aber der Autor des Textes, zu dem ich die Fakten nachzurecherchieren hatte, wollte just diese Zeile zitieren, und meine Aufgabe bestand darin, sie entweder als Ganzes zu klären oder zur Zufriedenheit meiner Chefs nachzuweisen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Es war Ed Komara, damals Hüter des heiligen B. B. King Blues Archive an der Universität von Mississippi, der mir empfahl, mit Fahey in Kontakt zu treten. Ich glaube, er sagte: »John Fahey weiß so'n Scheiß.«
Jemand an der Anmeldung erklärte sich bereit, mich in Faheys Zimmer durchzustellen. Aus dem, was ich mir später angelesen habe, lässt sich folgern, dass Fahey zu jener Zeit seine
wöchentliche Miete durch das Aufstöbern und den Wiederverkauf rarer Klassik- LP s zusammenbekam, wobei er für letztere einen außergewöhnlichen Blick entwickelt haben musste, sind die Gewinnspannen in diesem Metier doch so gering, dass sie kaum noch wahrzunehmen sind. Ich stellte ihn mir bäuchlings auf dem Bett liegend vor, mit grauem Bart und möglicherweise nackt, sein übermäßig üppiger Körper ausgestreckt wie etwas, das nur aufsteht, um zu essen. So zumindest haben ihn Journalisten in den wenigen Porträts, die ich gelesen habe, angetroffen. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihn die Jahrzehnte der Abhängigkeit und das kranke Herz, das ihn zwei Jahre später töten würde, schon stark mitgenommen. Aber er war auch vorher schon berüchtigt gewesen für seine Verschrobenheit, weswegen es mich wunderte, dass er ab dem Moment, als er den Hörer abnahm, red- und vertrauensselig war. Ein Freund von ihm, dem ich später von unserer Unterhaltung erzählte, sagte: »Natürlich war er nett zu Ihnen, Sie wollten ja auch nicht über ihn reden.«
Fahey erbat sich eine Viertelstunde, um seine »Beatbox« anzuschließen und das Band mit dem Lied ausfindig zu machen. Ich rief ihn zur verabredeten Zeit zurück.
»Mann«, sagte er, »keine Ahnung, was sie da singt. Aber es ist definitiv nicht Boutonnière.«
»Irgendeine Vermutung?«
»Nö.«
Wir sprangen zu einem anderen rätselhaften Wort ein paar Zeilen weiter. Wiley singt da: »My mother told me, just before she died / Lord, [precious?] daughter, don't you be so wild.« »Scheiße, ich hab nicht die Spur einer Ahnung«, sagte Fahey. »Aber ist eigentlich auch total egal. Die haben immer nur irgendwelches altes Zeug gesungen.«
Wir schienen am Ende unseres Experiments zu sein. Dann sagte Fahey: »Geben Sie mir eine Stunde. Ich setz mich noch mal ein bisschen hin damit.«
Mit der Kassette, die die Redaktion mir geborgt hatte, ging ich zu meinem Auto. Draußen herrschte die trostlose Kälte des nördlichen Mississippi. Der Wind blies ungehindert über die sanften, hier unten »Hügel« genannten Wellen in der platten Landschaft; in der Kleidung ballte er sich in kleinen Blasen gefrorener Luft, die einen bei jeder Gewichtsverlagerung kalt erwischten. Am Autoradio drehte ich die Bässe ganz raus und die Höhen ganz auf, um die Frequenz von Wileys Stimme zu isolieren, dann fuhr ich fast die ganze Stunde lang mit Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt. Die Problemwörter weigerten sich zwar, sich zu ergeben, aber während die Kassette spielte, schälte sich das Lied um diese Wörter herum heraus, und anstelle der Wörter hörte ich es zum ersten Mal richtig.
Im »Last Kind Words Blues« geht es um einen geisterhaften Liebhaber. Wenn Wiley das Wort »kind« singt, wie in »The last kind words I heard my daddy say«, dann meint sie es nicht so, wie wir es heute verstehen, nämlich eben nicht im Sinne von »nett« oder »freundlich«, sondern in der älteren Wortbedeutung von »natürlich« (mit der Implikation, dass alles, was »Daddy« nach diesen letzten Worten noch sagt, unnatürlich oder übernatürlich ist). Im Südstaaten-Dialekt hat sich dieser Gebrauch des Wortes erhalten, beispielsweise
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