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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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auch für eine Einweisung der Jugend in die Religion des Stammes. Ich sah ihn an. Ausnahmsweise schien er ebenso überwältigt zu sein, wie ich es in den Höhlen ohne Namen grundsätzlich war. Er sagte immer noch »Das wissen wir nicht«, aber jetzt stand es am Ende seines Vortrags, nicht am Anfang.
    An einer Stelle im Stollen fand sich eine Geburtsszene. »Ein Triptychon«, sagte Simek. Kastenfrau links, mit Quadratkopf und langen Alienarmen. In ihrem Bauch hat sie konzentrische Kreise. Gedehnte Schamlippen. Anscheinend gebärt sie ein kleines menschliches Wesen. Sie hält eine eher konventionelle, menschenähnliche Figur an der Hand.
    In einem engen Stollen nicht weit davon entfernt, dicht am Boden: ein tanzender Mann mit einer Art Kopfschmuck und einem riesigen erigierten Penis.
    Und dann erreichten wir das Tafelbild mit den Vögeln. Kleine Vögel, von der Größe eines Silberdollars. Ein Truthahn. Ein Falke. Immerhin ein kleiner Singvogel. Sehr fein mit Flintstein in Kalkstein geritzt. Eine weitere Höhle, die mit Vögeln begann und endete.
    Als wir wieder draußen waren und vor dem Rückweg zum Auto noch eine Pause machten, sagte Simek: »Überleg mal. Was gab es in dieser Höhle gar nicht?«
    Ich wusste es nicht. Hatte es in der Höhle nicht alles gegeben?
    »Über dreihundert Bilder, aber kein einziges von einer Waffe«, sagte er. »Wir haben es hier mit früher Mississippi-Kunst zu tun, in der es keine Gewaltdarstellungen gibt, wo die Vögel reine Vögel sind und nicht mit Krieg in Verbindung stehen – sie befinden sich mitten im Flug. Sogar die menschlichen Figuren sind nicht unbedingt Krieger.«
    In dieser Höhle hatte es auch Frauen und Sex gegeben. Ich dachte darüber nach. Keine Frauen und kein Sex in den anderen Höhlen.
    »Die alte Religion«, sagte Jan.
     
    Seit ich aufgehört habe, Simek und das CART -Team zu begleiten, haben sie etliche weitere Höhlen auf oder neben dem Plateau entdeckt, in denen es Bilder in dieser ehemals unbekannten Tradition gibt. Manche von ihnen sind stilistisch sogar noch abwegiger. Eine ist voll von diesen kleinen naturalistischen Vögeln, Hunderte von Petroglyphen, Truthähne überall. In einer anderen Höhle fanden sie eine in die Decke gemeißelte menschenähnliche Figur. Ihr Torso ist ein gekrümmtes Rechteck, gefüllt mit Kreuzen. Die Vogelscheuchenarme stehen im rechten Winkel ab. Die Figur hat einen runden Kopf mit ab
stehenden Hasenohren. An den Füßen lange, fließende Zehen, die entfernt an die Paddelhände aus der Zwölften Namenlosen erinnern. Die Sonne scheint ihr aus dem Bauch. »Das ist der beste Ausdruck dafür«, sagte mir Jan. »Die Sonne scheint ihr aus dem Bauch.«
    Im Laufe der Jahre änderte sich Jans Meinung zur möglichen Bedeutung des Kunstwerks allmählich. Man hatte so viele Höhlen gefunden, es gab jetzt so viele Daten, dass es an der Zeit für ein paar spekulative Deutungsversuche war. Er würde sich nicht auf das Terrain der SECC -Arbeitsgruppe begeben. Das war absolut keine Option. Es sind keine alten Mythen der Woodland-Kultur erhalten, noch nicht einmal indirekte Quellen. Wir werden nie erfahren, wie ihre Götter hießen und welche Charaktereigenschaften sie auszeichneten. Aber was Jan und seine Kollegen vor sich hatten, war etwas Tiefergehendes, etwas Vormythisches, nämlich eine vergeistigte Vision der Landschaft. Sowohl die Höhlen als auch die Fundstellen auf der Oberfläche »kennzeichneten Orte der Kraft, an denen sie ihre Seele mit der Landschaft verbanden«, und diese Orte gehörten zusammen. Mit dieser Entdeckung kam Simek unerwartet zu demselben Schluss wie einer der ersten Fachleute für Altertümer aus Tennessee, der Richter John Haywood, der 1823 in seinem Buch Nature and Aboriginal History von »einer Verbindung zwischen den Mounds, der Kohle und der Asche, den Malereien und den Höhlen« schrieb.
    Eines Nachts am Telefon sagte Jan, dass sie eine Höhle entdeckt hatten – ganz in der Nähe von Knoxville, nicht weit von seinem Haus entfernt – und tief in ihrem finsteren Inneren eine Jagdszene, das Kohlepiktogramm eines Mannes, der ein Reh jagt. Sie hatten eine winzige Karbonprobe genommen. Das Datum kam aus dem Labor: sechstausend Jahre alt. Sie konnten es nicht glauben. Manchmal wird das organische Material im Kalkstein, mit dem seine biologische Herkunft bewiesen werden kann (Kalkstein besteht im Prinzip aus prähis
torischen Muscheln), ausgeschwemmt, so dass die Proben verunreinigt sind. Sie hatten den Stein

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