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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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in Wendungen, die das Wort kindly enthalten. An der Wendung »I thank you kindly« klebt, wie das Oxford English Dictionary bestätigt, ein Rest dieser ursprünglichen, archaischen Bedeutung. Sie meint nämlich nicht: »Ich bedanke mich bei Ihnen höflich in aller Herzlichkeit.« Sondern: »Ich danke Ihnen auf die Ihrer Handlung angemessene Art und Weise.« Es ist ja auch, im herkömmlichen Sinne, nichts »Nettes« an den kühlen Anweisungen, die ihr Mann ihr betreffs der Entsorgung seiner sterblichen Überreste gibt. Das meine ich, wenn ich sage, dass der Blues sich an regionale Spracheigentümlichkeiten hält. In dieser Hinsicht unterlaufen ihm keine Fehler.
    Ihr Alter ist gestorben, womit er allem Anschein nach auch
gerechnet hat: Das ist die Aussage der ersten drei Strophen, wenn auch nicht ausdrücklich, sondern vom Tonfall her. Dann gerät das Lied in Niemandsland. Sie ist verloren und orientierungslos. Erinnern wir uns: Ihre Mutter hatte sie kurz vor ihrem Tod – »just before she died« – noch vor den Männern gewarnt. Die Tochter hat nicht auf sie gehört, und jetzt ist es zu spät. Sie ist auf Wanderschaft.
     
    »I went to the depot, I looked up at the sun,
    Cried, Some train don't come,
    Gon' be some walking done. «
     
    Wo muss sie so dringend hin, dass sie nicht auf den nächsten Zug warten kann? Es gibt einen kleinen Hinweis, denn sie redet ja immer noch mit ihm – oder er mit ihr, da kann man nicht ganz sicher sein: »When you see me coming, look 'cross the rich man's field / If I don't bring you flowers / I'll bring you [?].« Also: Wenn du mich kommen siehst, da, schau hin, direkt übers Feld des reichen Mannes, und ich dir keine Blumen mitbringe, dann bringe ich etwas anderes. So viel zumindest war klar, und das ist Teil dieser alten Geschichte: Wenn ich dir kein Silber bringe, dann bringe ich dir mindestens Gold usw.
    Aber dann, in der dritten und letzten Passage des Liedes, wird es wahrhaft mysteriös.
     
    »The Mississippi River, you know it's deep and wide,
    I can stand right here,
    See my baby from the other side.«
     
    Diese Zeilen gehören zu den unzähligen, quasi frei flottierenden Standardversen im Country Blues, die die Musiker untereinander weiterreichten wie den neuesten Tratsch. In einem fast Haiku-artigen Ansatz entstanden Dramatik und sogar Nar
ration oft durch die bloße Reinheit des Bildes und die Intensität der Gegenüberstellung – ein Großteil der Poesie dieser Musik liegt eben nicht in ihrem Einfallsreichtum, sondern in ihrem Arrangement begründet. Was aber hat Wiley mit diesen Zeilen gemacht? Üblicherweise lauten sie: »I can see my baby [manchmal auch: ›my brownie‹] / from this other side.« Aber bei ihr geschieht etwas Unheimliches mit den räumlichen Verhältnissen. Wenn ich genau hier an diesem Fleck stehe (»stand right here«), also an diesem Flussufer, wie soll ich dich dann von der anderen Seite aus sehen können (»see my baby from the other side«)? Die Ortsbestimmung ist schief. Es sei denn, ich schlüpfe aus meinem Körper hinaus und komme auf der anderen Seite zu dir. Wiley beschließt den Song, als wolle sie genau diesen Verdacht bestätigen:
     
    »What you do to me, baby,
    It never gets out of me.
    I believe I'll see ya,
    After I cross the deep blue sea.«
     
    Das ist eine der ältesten Metaphern für den Tod, die dank Wileys nicht säkularen Vorkriegskollegen recht schnell zur Hand gewesen sein muss. »Precious Jesus, gently guide me«, so geht ein Gospel-Refrain von 1926, »o'er that ocean dark and wide«. Aus, vorbei, o'er, over. »Over« im Sinne von »rüber«. Übers dunkle, weite Meer. Tot also, aber damit nicht »hoch«, sondern »rüber«.
    Greil Marcus, der Autor des Textes, den ich nachrecherchierte, erwähnte die außergewöhnliche »Zartheit« dieser »What you do to me, baby«-Zeile. Die sich nicht abstreiten lässt. Genauso wenig wie der ungeheure Überdruss. »It never gets out of me«, aber ein Teil von ihr wünscht sich, dass genau das passiert: dass die Erinnerung stirbt, dass sie sie loswird, diese lange Krankheit. (»The blues is a low down achin' heart disease«,
sang Robert Johnson als Echo von Kokomo Arnold, der wiederum das Echo von Clara Smith war, in der wiederum die 1913 von einem weißen Minstrelmusiker geschriebene Nummer mit dem Titel »Nigger Blues« Widerhall fand.) Außer auf das Wiedersehen, das der Tod vielleicht bringt, gibt es nichts, worauf man sich freuen könnte. Das ist der enge, getriebene,

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