Pulphead
gequälte Kosmos dieses Songs, den man hört wie einen fernen Nachhall und der viele Leute nachts nicht schlafen lässt.
Ich in meinem alten Toyota hatte auf jeden Fall heftige Gefühlswallungen. Fahey allerdings machte, als ich ihn wieder am Telefon hatte, einen geradezu aufgekratzten Eindruck. Er hatte einen Treffer gelandet: blessèd , gesegnet. Das hatte ihre Mutter zu ihr gesagt: »Lord, blessèd daughter, don't you be so wild«. Ich spulte zu der Stelle. Jetzt schien es mir offensichtlich, vollkommen unmöglich, etwas anderes zu verstehen. Ich machte Fahey ein Kompliment für seine guten Ohren. Immer wieder von starken Hustenanfällen unterbrochen, ließ er eine Tirade vom Stapel von wegen »Die Texte waren denen sowieso nicht wichtig« und »Das waren doch alles Analphabeten«.
Dieses reflexartige Hin und Her zwischen ekstatischer Wertschätzung und dem Drang, die ästhetische Bedeutsamkeit des Country Blues kleinzureden, war, wie ich später erkennen sollte, ein Muster in Faheys Karriere – zu dem auch die »Blind Joe Death«-Episode zählte. Möglicherweise hatte er Angst davor, sich der fast dämonischen Gewalt, die diese Musik auf so viele ausübt, zu überantworten oder dies schon längst getan zu haben. Ich bin mir relativ sicher, dass sein Ironie-Messgerät so gut wie überhaupt nicht ausschlug, als er seinen im Jahr 2000 erschienenen Kurzgeschichtenband How Bluegrass Music Destroyed My Life betitelte. Darüber hinaus verschaffte ihm die Fähigkeit, willentlich in einen abschätzigen Modus springen zu können, die Möglichkeit, seinen gefühlten Expertenstatus, sein Beobachtend-daneben-stehen-Können, aufrechtzuerhal
ten. Fast alle maßgeblichen Blues-Kenner haben diese Tendenz an den Tag gelegt: Solange die Musik so gut wie unbekannt war, pries man sie als große, unverwüstliche amerikanische Kunst; als jedoch die Leute (wie die Rolling Stones zum Beispiel) Feuer fingen und darüber zu plappern begannen, konnte man sie nicht schnell genug daran erinnern, dass es sich eigentlich nur um Tanzmusik für betrunkene Erntehelfer handelte. Fahey hatte einen Punkt erreicht, an dem er in ein und demselben Satz beide Extreme unterbringen konnte.
Mit der Boutonnière war er auch nicht weiter gekommen als ich, diese Sache blieb also weiterhin vordringlich zu klären, weswegen wir uns erneut vertagten. Und wieder telefonierten. Und das Gespräch wieder unterbrachen. Das ging so ein paar Stunden lang. Ich konnte nicht fassen, wie geduldig er war. Irgendwann, ich saß wieder im Auto, registrierten ein paar Härchen am Rand meines innersten Innenohrs nach vielfachem Hin- und Herspulen ein schwaches »L« in der ersten Silbe dieses letzten Wortes: boLtered ? Ein schnelles Nachschlagen im Oxford English Dictionary führte zu bolt , dann zu bolted und zu guter Letzt zu einem Zitat aus John de Trevisas englischer Übersetzung von Bartholomaeus Anglicus' lateinischer Enzyklopädie De proprietatibus rerum ( Über die Ordnung der Dinge ) von ca. 1240: »The floure of the mele, whan it is bultid and departid from the bran.«
Wiley sang nicht »flowers« (Blumen); sie sang »flour« (Mehl). Das Mehl des reichen Mannes, das sie aus Liebe zu dir für dich stiehlt. Sollte sie kein Mehl besorgen können, holt sie eben »bolted meal«, also sehr fein gesiebten Schrot.
»When you see me coming, look 'cross the rich man's field.
If I don't bring you flour,
I'll bring you bolted meal.«
Fahey war skeptisch. »Davon hab ich ja noch nie was gehört«, meinte er. Aber später, nachdem wir uns, allem Anschein nach, zum letzten Mal verabschiedet hatten, meldete er sich noch einmal. Er hatte in der Zwischenzeit Leute angerufen und seine Meinung geändert. (Zu wissen wen, wäre eine schöne Sache – man könnte einen kleinen, sehr wertvollen neuronalen Pfad in der amerikanischen Gedankenwelt der Jahrtausendwende nachverfolgen.) Eine seiner Quellen hatte ihm gesagt, im Bürgerkrieg sei es üblich gewesen, gesiebten Maisgrieß zu nehmen, wenn einem das Mehl ausgegangen war. »Hey«, sagte er, »sollten wir dieses neue Ding auf die Reihe kriegen, schreiben wir Sie ins Begleitheft.«
Das neue Ding war noch im Entstehen, als er starb. Am Telefon hatten wir uns noch über Revenant unterhalten, das 1996 von ihm und einem texanischen Rechtsanwalt namens Dean Blackwood gegründete Label für »Originalmusiken«. Was ihr Augenmerk aufs grafische Detail anbelangt, sind Revenant-Veröffentlichungen konstruktivistische
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