Pulphead
Designprojekte, und die Begleithefte lesen sich wie Mitschriften wissenschaftlicher Konferenzen. Fahey und Blackwood planten eine Neuveröffentlichung, auf der es nur um die »Phantome« der Vorkriegszeit gehen sollte (darunter Wiley und Thomas; von den sechs Aufnahmen dieses Duos sollte die Compilation neue, herausragende Überspielungen enthalten). Die einzigen Kriterien für die Zusammenstellung sollten sein: über den jeweiligen Künstler ist nichts Biografisches bekannt, und jede Aufnahme ist in einem geradezu strikten Sinn eine phänomenale Erscheinung, etwas, das irgendwann vor einem Mikrofon passiert ist, aber nicht nachgespielt, sondern nur erneut erlebt werden kann. Jahrelang hatten sie von diesem Projekt geträumt und an ihren Listen getüftelt. Und ich hatte jetzt ein Fünkchen Wissen dazu beigetragen, einen winzigen Ameisenmundvoll Wissen.
Es vergingen fast sechs Jahre, in denen Fahey an den Komplikationen nach einer Mehrfach-Bypass-Operation im Krankenhaus starb. Wie viele andere auch ging ich davon aus, dass das »Phantome-Projekt« mit ihm begraben worden war, aber im Oktober 2005 nahm es, ohne große Ankündigung und nachdem Revenant gerüchteweise schon dicht gemacht hatte, in Form von zwei CD s mit insgesamt fünfzig Songs und dem Untertitel Pre-War Revenants (1897-1939) plötzlich Gestalt an.
Jeder, der sich für die Kultur Amerikas interessiert, sollte einen Weg finden, sich diese Compilation anzuhören. Sie ist für ihr Genre die wahrscheinlich wichtigste Archivveröffentlichung seit Harry Smiths bahnbrechender Anthology of American Folk Music von 1952, mit der sie den Grund für ihren Rang teilt: Sie steht weniger für den akademischen Ansatz der Bewahrung und Verbreitung obskurer Tonaufnahmen – natürlich sind auch solche Unterfangen unerlässlich – als vielmehr für die Kartierung einer tief verankerten ästhetischen Sensibilität, die trotz der sie begleitenden Qualen in lebenslangem, leidenschaftlichem Einklang stand mit der Musik und den Nuancen ihrer Kunstfertigkeit. Wer diese Sammlung hört, beteiligt sich an der Pflege und der Bewahrung von etwas mit Vergil Verwandtem.
Wollte man die Sache auf angemessene Art und Weise angehen, musste man alles noch einmal direkt von den 78ern neu mastern und digital überarbeiten, was gleichzeitig bedeutete, den transnationalen Kaninchenbau der sogenannten ernsthaften Sammler zu entwirren, eine weit verzweigte, aber dysfunktional eng verknüpfte Gemeinde, innerhalb der die größten Sammlungen durch Zusammenlegung über die Jahre in die Obhut von immer weniger Händen gelangt sind. »Ernstzunehmende Blues-Leute gibt es weniger als zehn«, erzählte mir einer, der an den Pre-War Revenants mitgewirkt hat. »Im Country sind es sieben, im Jazz vielleicht fünfzehn. Die meisten sind mehr oder weniger ausgeprägte Soziopathen.« Ihre Haupt
beschäftigung besteht darin, jahrzehntealten Groll zu hegen. Sie sind schrecklich komplizierte Menschen, aber aus Gründen, die ihnen vielleicht nicht mal selbst begreiflich sind, haben sie diese Musik vor der Zeit und der Gleichgültigkeit bewahrt. Die Sammler waren vor allem auch die Finder. Diese Trips, bei denen man alte Blues-Musiker aufspürte, hatten irgendwann als Ausflüge angefangen, bei denen man die Häuser abklapperte und nach alten Platten fragte. Um einen legitimen Grund dafür zu haben, durch die Schwarzenviertel zu laufen und an die Türen zu klopfen, wurde Gayle Dean Wardlow sogar mal Kammerjäger. »Soll ich in Ihrem Haus sprühen?« »Nah.« »Haben Sie komische alte Platten auf dem Dachboden?«
Um die sechzig Prozent der Stücke auf Pre-War Revenants sind » SCO s«, single copy only , also Songs, von denen es nur noch einen einzigen existierenden Originaltonträger gibt. Diese Lieder sind wie Blitzlichter in einem Meer von Dunkelheit. Blues Birdhead, Bayless Rose, Pigmeat Terry – alles Sänger, die bislang nur Freaks gehört haben, die wirklich weit in die Materie vorgedrungen sind. »I got the mean Bo-Lita blues«, singt der unbekannte Kid Brown (»Bo-Lita« war ein extrem kompliziertes mexikanisches Glücksspiel, das sich vor ungefähr hundert Jahren in den Südstaaten wie ein Strohfeuer ausbreitete und dabei das eine oder andere in einem Schuhkarton verwahrte Vermögen vernichtete.) Dann ist da noch dieser Tommy Settlers, der irgendwie aus seinem Rachen heraus singt. Ich kann's nicht beschreiben. Vielleicht trat er sogar in Freakshows auf. Sein »Big Bed Bug« und sein »Shaking
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