Pulphead
fasziniert). Die Ushers arbeiteten als Verwalter an der Universität, was bedeutete, dass sie auf dem Campus eine Pension für Studenten von außerhalb betrieben. Rafinesque hatte dort im ersten Jahr seiner Anstellung ein Zimmer. Einer seiner Studenten hinterließ eine bewundernswert lebendige Beschreibung:
»Er trug weite niederländische Hosen mit einem sehr eigentümlichen Muster, Hosenträger dagegen nie. Wenn die Vorlesung voranschritt und er sich ins Thema hineinarbeitete, geriet er in Wallung, warf seinen Mantel ab, seine Weste rutschte hoch und machte Platz für die schwellende Fleisch
masse und das weiße Hemd, das nach einer Fluchtmöglichkeit suchte. Seinem Erscheinungsbild und dem Amüsement, das er auslöste, schenkte er keinerlei Beachtung und nahm außer seinem Thema nichts um sich herum wahr.«
In Lexington wurde er außerordentlich fett. Wahrscheinlich trägt meine Urur . . . – wahrscheinlich trägt Ann die Schuld dafür. Sie war ebenfalls sehr dick, und genauso erging es Luke (der von »falstaffscher Gestalt« war, wie man sich der Überlieferung nach auszudrücken pflegte). Sie war bekannt dafür, den Leuten ihren Plumpudding gewaltsam aufzuzwingen. Nach diesem Jahr findet man in Beschreibungen von Rafinesque erstmalig das Wort korpulent .
Vielleicht war es gerade diese familiäre Verbindung, weshalb ich lange eine enge Vertrautheit empfunden habe mit dem »Zimmer inmitten des Campus«, in dem Rafinesque in den Jahren 1821/1822 gelebt hat. Wenn man seine Schriften liest, spürt man es unweigerlich: Dieses Zimmer ist der einzige Ort, an dem er sich offenkundig wohlfühlt; er blickte sich um und wurde des Umstands gewahr, dass er in einer menschlichen Behausung lebte. Da er als Naturforscher ständig Listen und Notizen machte, wissen wir viel über diesen Raum, an den ein Absolvent sich als »eine mit Schmetterlingen, Käfern und wunderlichen Dingen aller Arten gefüllte Kuriosität« erinnert. Briefe des New Yorker Gouverneurs DeWitt Clinton und Jeffersons, mit dem Rafinesque wieder in Kontakt getreten war, lagen – Hoppla! – auffällig am Rand des Tischs. Die am wenigsten hundserbärmliche der dort in Stapeln auf die Korrektur wartenden Hausarbeiten war die des jungen Magisters Jefferson Davis, der nach seiner Inhaftierung durch Lincoln im Jahr 1866 seinen Arzt in der Festung Monroe ersuchen wird, ihm einige Bände zu »Muschelkunde, Geologie oder Botanik« zu beschaffen, wünsche er doch, sich mit Interessen aus unschuldigeren Tagen zu befassen. Auf dem Sims vor Rafinesques Süd
westfenster ist nah am rechten Rahmen – so dass die Sonne nie direkt darauf scheint – ein von Frederic Houriel in Paris angefertigtes Metallthermometer angebracht, das das ganze Jahr hindurch still und leise Wissen liefert. Da sind Geräusche: »Am 11. hörten wir die ersten Frösche . . . Am 25. waren die Amseln schon sehr laut.« Wir sehen der Vegetation zu: »Das Gras fängt an zu wachsen und ist schon recht grün . . . Die Kätzchen der Pyramidenpappel kommen schon langsam heraus.« Dann gibt es »am Morgen des 29. bemerkenswerten Raureif«. Die ausgebreitete, mit Tinte gezeichnete Karte einer indianischen Ausgrabungsstätte möchte sich wieder einrollen, wird aber an zwei gegenüberliegenden Ecken von Papierbeschwerern aus fossilem Gestein niedergehalten, auf der dritten Ecke liegt ein Vergrößerungsglas und auf der vierten ein vollkommen glattes, wie aus einem Guss wirkendes Stück aschgrauen Kalksteins, das auf seiner flachen Bruchseite ruht.
Mit einem dicken Stift hockt Rafinesque gebückt über den Fahnen der ersten und einzigen Ausgabe der Western Minerva , eines von ihm ins Leben gerufenen Journals, dessen Erscheinen von einer, so beschreibt er es gegenüber Jefferson, » cabale nouvelle del ignorance contre les lumières « unterbunden wird, noch bevor es die Druckerei verlässt. Die beiden erhaltenen Exemplare sind hauptsächlich eine Zeitkapsel voll von Rafinesques erstaunlicher zwischenmenschlicher Unausstehlichkeit, die er immer an den Tag legte, wenn er sich unangemessen behandelt fühlte, was aus seiner Sicht in Lexington der Fall war, einer Stadt, die ihm mehr Respekt entgegenbrachte als jede andere auf der Welt und die ihm die einzige richtige Anstellung seines Lebens gab, wo er aber – wie überall – erwartete, dass man ihm jederzeit mit gezückten Griffeln und Schreibtafeln hinterherlief. Trotz alledem gründete er in dieser Stadt mehrere Vereine und einen
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