Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
Vom Netzwerk:
botanischen Garten, außerdem hielt er öffentliche Vorlesungen über Naturwissenschaften. Die Menschen strömten scharenweise zusammen,
um seinen Vortrag über »Die Geschichte der Ameisen« zu hören, von denen er berichtete, sie hätten »Anwälte, Ärzte, Generäle, Soldaten und . . . große Schlachten«. Trotzdem verhöhnte er die Stadtbewohner als »fahrende Ritter und Sanchos«. Er ging auf ihre Feste und lachte sich über die ungeschlachten Tänze tot, beklagte, dass man immer in kleinen Grüppchen zusammenstünde, so dass »niemand sich zu seinem Vorteil hervortun kann . . ., denn die Chancen stehen zehn zu eins, dass das beste Bonmot nur von zwei Nebenstehenden gehört wird«. (Im 18. Jahrhundert wäre das anders gewesen.)
    Er glaubt, dass die Minerva dem noch jungen Westen Nordamerikas den Funken der Aufklärung bringen wird. In den frühen Morgenstunden sitzt er da und geht die Druckfahnen durch. Die bedrohlichen Schritte der Studenten hinter seiner Tür sind verstummt, und die Einzige, die ihn jetzt womöglich noch stört, ist mein Urömchen, das fragt, ob er Kaffee und Maismehlkuchen möchte.
    Rafinesque verbrauchte zu viele Kerzen. Einmal beschwerte sich die Universität tatsächlich darüber, wie viel sie Luke dafür bezahlen müsse. (Dieselbe Universität, die für Rafinesque sicherlich irgendwo eine freistehende Blockhütte hätte auftreiben können.)
    Müde reibt er sich die »feinen schwarzen Augen«. Er kommt ans Ende des Hefts. Dort steht ein von ihm verfasstes Gedicht, dem er den Titel »An Maria. Die mich fragte, ob es mir nicht gefiele, in einem Häuschen zu leben« gegeben hatte. Es ist das einzige seiner Gedichte, das er mit »Constantine« unterschrieben hat statt mit einem geckenhaften Künstlerpseudonym. Die Leser in Lexington hätten gewusst, dass »Maria« Mary Holley war, die Ehefrau des Universitätspräsidenten Horace Holley. Sie stand einem Salon vor, dem Rafinesque für gewöhnlich beiwohnte, obwohl er ihren Ehemann nicht ausstehen konnte, seinen Vorgesetzten – und Rivalen, denn in Mary hatte Rafinesque seinen philosophischen Engel gefunden. Für eine Frau,
die zu jener Zeit westlich der Appalachen lebte, war sie schockierend versiert und gebildet. In ihrem späteren Leben verfasste sie eine Geschichte von Texas, von der es heißt, sie sei damals die mit Abstand wichtigste Schrift gewesen, um Menschen dazu zu bewegen, noch vor dem Bürgerkrieg die Wanderung dorthin anzutreten. Sie kümmerte sich darum, dass Rafinesques Haar gebürstet und der Schmutz der Höhlenexpeditionen aus seinen Kleidern gewaschen wurde. An vielen Tagen aß er gemeinsam mit den Holleys zu Abend, wobei er sich zweifelsohne weigerte, Horace in die Augen zu sehen. Es war wohl eine dieser Geschichten. Wenn Mary sagte: »Oh, wie ich Sie bewundere, Monsieur Rafinesque«, wollte sie sagen, wie sehr sie seinen Verstand schätzte. Er hingegen hörte etwas wie: »Helfen Sie mir, dieser Kröte zu entkommen, befreien Sie mich, damit ich Ihnen Ihre genialen Erben gebären kann.« Jedenfalls hatten sie sich in diesem mehrdeutigen Spiel mit dem Wort Liebe wohlig eingerichtet, weswegen er sich auch die Frechheit erlaubte, ihr diese Verse zu widmen.
    Er richtet sich auf. In der letzten Zeile ist ihm ein Fehler aufgefallen, da, wo es heißt: »Wir werden die Freuden der Liebe füllen und ihre Kraft besingen.« Es sollte »fühlen« heißen. Er vermerkt die Korrektur. Man kann sie in seinem fetten, dunklen Bleistiftstrich noch sehen auf einem der beiden Minerva -Exemplare, die das Einstampfen überlebt haben. Aber ihm entgeht etwas. Weiter oben übersieht er einen sehr viel schwerer wiegenden Fehler, einen Fehler im Titel, wo es heißt: »An Maria, die mich fragte, ob es mir nicht gefiele, in einem Häuschen zu lieben.« Fraglos hatte sie von ihm wissen wollen, ob er sich nicht gut vorstellen könne, in einem Häuschen zu leben .
    Plötzlich klang das ganze Gedicht anders – oder sehr viel eher nach dem, was es eigentlich war. »Begeben wir uns dahin, wo plätschernde Bächlein quellen«, geht es weiter, »mit eins werdenden Herzen teilen wir ein zartes Glück.« Es muss Rafinesque schlecht geworden sein, als er am nächsten Mor
gen hörte, ein Satz Fahnen sei durchgesickert, und im Aufblicken schon die »Sophisten, Aristarchen und Maulwürfe« näher kommen sah. Deutlich sichtbar steht am Anfang des Lyrik-Teils eine stark gefettete Randbemerkung von ihm: »Ich muss eine weitere Fahne sehen!« Diesmal war es nicht

Weitere Kostenlose Bücher