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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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die Damen machten gar keinen besorgten Eindruck. Sie lachten sogar. Sicher erinnerten sie sich an Wanderzirkusse, die auf diesem Feld irgendwann in den 1890er Jahren gastiert hatten – und im Grunde war der Unterschied auch nicht besonders groß.
    An diesem Abend schaffte ich es, mich in den Backstage-Bereich zu schleimen, indem ich der portugiesischen Modelfreundin des Bassisten einen kleinen Gefallen tat. (Ich gab ihrem Kumpel von zu Hause eine überzählige Presseakkreditierung, die man mir aus irgendeinem Grund ausgehändigt hatte.) Als der Security-Mann, der dem portugiesischen Model auf der Rampe zur Bühne noch nicht mal in die Augen sah, als sie an ihm vorbeiglitt, mir seine Hand gegen die Brust drückte, als wollte er sagen: »Moooment, das wird jetzt ein bisschen viel«, drehte sie sich kurz um und sagte: »Está conmigo«. Sie äußerte das mit ungefähr dem minimalen Grad an Nervosität und Unsicherheit, mit dem man vielleicht zu einem Oberkellner sagt: »Raucherbereich, bitte«. Bevor ich mich noch bei ihr bedanken konnte, sah ich Axl schon tanzen, und zwar aus einer derart unfassbaren Nähe, dass ich, hätte ich die Knie gebeugt, die Arme vorgestreckt und einen Hechtsprung gemacht, am nächsten Tag als derjenige, der Axl vor fünfundzwanzigtausend Leuten angegriffen hatte, zum Aufmacher der Vermischtes-Seite in El País geworden wäre.
    Ich hatte auch früher schon mal inmitten eines Meeres aus schreienden, schwitzenden Jugendlichen gestanden, aber ein solches Meer von der Bühne aus zu sehen, direkt von oben, zu sehen, wie die Münder so vieler Tausender Leute Worte formen, die man sich irgendwann mal beim Zähneputzen ausgedacht hat (ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass ich mir versuchte vorzustellen, ich hätte sie geschrieben), war berauschend. »Guns and RO - SES , Guns and RO - SES . . .« Axl hämmerte im Rhythmus des Sprechchores den Fuß des Mikrofonständers auf die Bühne. Alle zehn Minuten oder so schaute ein bärtiger Junge uns an – mich, das Model und ihren Freund –, legte sich die Hände auf die Ohren und artikulierte tonlos das Wort »Pyro«. Dann hatten wir uns ebenfalls die Hände auf die Ohren zu legen, denn in Kürze würde sich in drei Metern Entfernung eine Explosion ereignen.
    Manchmal vergaß uns der Junge – er hatte schwer zu tun –, dann schrien alle »Aaaarrrgh!« und krallten sich die Finger in die Ohren.
    Neben mir stand ein leicht schwankender älterer Heini mit Zeitungsjungenkappe auf dem Kopf und Gitarre in der Hand – ein Techniker, dachte ich. Dann rannte er plötzlich auf die Bühne, und mir ging ein Licht auf: »Das ist ja Izzy Stradlin!« (der Guns-n'Roses-Gründungsgitarrist).
    Für mich ist klar: Izzy war der Grund dafür, warum die Band an diesem Abend so viel besser klang als zwei Monate zuvor in New York. Damals war Izzy noch nicht wieder dabei gewesen, er kam erst einen Tag später zum ersten Mal für drei, vier Songs mit auf die Bühne, nach dem Eröffnungsstück, und das hat er seitdem immer mal wieder gemacht. Seine Anwesenheit – genauer: die Anwesenheit eines weiteren Mitglieds der Originalbesetzung – scheint bewirkt zu haben, dass die anderen sich mehr wie Guns N' Roses fühlten und weniger so, wie es El Diario Vasco am Tag nach dem Bilbao-Konzert schreiben würde: »una bullanguera formación de mercenarios al
servicio del ego del vocalista«, was so viel heißt wie »eine widerspenstige Söldnerhorde in Diensten des Sänger-Egos«.
    Die spanische Presse – nett war sie nicht. Sie schrieben, Axl sei ein »groteskes Spektakel« gewesen; sie nannten ihn »el divo«; sie sprachen von den endlosen, Nigel-Tufnel-esken »solos absurdos«, zu denen er jedes Bandmitglied in dem Bemühen zwinge, das Publikum zur emotionalen Verbandelung mit der neuen Besetzung zu bringen (es stimmt, die Solos sind einigermaßen unklug – aber so ergeht es dem Rock-Solo seit Jimis Tod ja insgesamt). In einem Artikel stand, dass »las fotos de Axl dan miedo«, was, glaube ich, doppeldeutig ist – einmal mitleidig und einmal hämisch – und übersetzt werden kann mit »die Bilder von Axl machen Angst«, mit diesem »Ziegenbärtchen, das ihm die Aura eines texanischen Millionärs verleiht«. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, schrieben sie, er habe »die Stimme eines Hahns mit Priapismus«. Sie behaupteten, er verlange, dass sein Zimmer über und über mit Orientteppichen behängt werde und er nicht mit den anderen Bandmitgliedern in Kontakt

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