Pulphead
studierte. Sie hatten in Lexington eine Pause eingelegt, um zu proben. Ein paar Tage zuvor hatte Worth mich angerufen und gefragt, ob ich beim Konzert bestimmte Songs hören wollte. Ich wünschte mir etwas Neues, das er bei unserer letzten Begegnung an Weihnachten geschrieben und mir vorgespielt hatte. Die Feiertage laufen bei uns immer auf dasselbe hinaus: Worth und ich bleiben lange wach, trinken und spielen uns gegenseitig neue Songideen vor. Mit seinem Bruder Harmonien zu singen, hat etwas biologisch Befriedigendes. Wir haben gelernt, uns über Musik zu verständigen, unsere Gitarren sind für uns, was Baseball für Väter und Söhne ist, eine Art emotionale Geheimsprache. Worth ist sieben Jahre älter als ich, ein Altersunterschied, der Brüder leicht zu Fremden machen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Bruder sich erst für mich zu interessieren begann, als er mich eines Tages im Keller unseres alten Hauses in Indiana mit seiner schwarzen Telecaster erwischte, die ich nicht anfassen durfte. Ich hatte versucht, mir »Radio Free Europe« beizubringen.
Das Lied, das ich mir gewünscht hatte, hieß »It's All Over« und war kein typischer Song der Moviegoers. Er war einfacher und ernsthafter als der ansteckende Pop-Rock, der ihr Marken
zeichen geworden war. Die Band war mit den Änderungen noch nicht vertraut, und Worth hatte sie gerade durch die erste Strophe führen wollen, hatte sich gerade vorgebeugt, um die ersten Zeilen zu singen – »Is it all over? I'm scanning the paper/For someone to replace her« –, als ein elektrischer Stoß seinen Körper durchfuhr, das Mikro wie eine kleine, aber beharrliche Rakete an seinen Brustkorb saugte, die erste Saite und den Bund der Gitarre in seine Handfläche brannte und sein Herz anhielt. Worth kippte nach hinten, schlug auf und starb.
Wahrscheinlich wissen Sie das alles schon. Ich habe die Einzelheiten nämlich selbst aus einer öffentlichen Quelle, einer Folge der Reality-Show Rescue 911 , die sechs Monate nach dem Unfall gesendet wurde (moderiert von William Shatner). In der nachgestellten Szene spielt sich mein Bruder selbst, was ihn amüsierte, da er sich an das tatsächliche Ereignis nicht erinnert. Für uns andere, seine Familie und Freunde, ist die Folge nur schwer zu ertragen.
Die Geschichte, die Shatner erzählt, endet mit der Gewissheit, dass mein Bruder überleben wird. Es ist eine andere Geschichte als die, die ich kenne. Seine Version erinnert allerdings daran, dass man bei medizinischen Notfällen nicht leichtfertig von »Wundern« sprechen sollte. Nichts gegen dieses Wort – die Belegschaft des Humana Hospitals in Lexington bezeichnete den Fall meinen Bruders als »Wunderheilung«, und diese Leute haben etliche schreckliche Unfälle und unerklärliche Genesungen gesehen –, aber es wird dem menschlichen Können und der immensen Besonnenheit nicht gerecht, die es braucht, um ein Menschenleben zu retten. Ich denke dabei an Liam, den Bandkollegen und besten Freund meines Bruders, der irgendwie die Nerven behielt und Worth in den Armen hielt, bis Hilfe kam, und der ihn schon bei den ersten gemeinsamen Proben darauf hingewiesen hatte, immer seine Chucks zu tragen, deren Gummisohlen ihn vor einem endgültigeren
Schicksal bewahrten. Ich denke an Captain Clarence Jones, den Feuerwehrmann und Sanitäter, der Worth ausgerechnet mit 200-Joule-Elektroschocks zurück ins Leben holte (und später auf Gott verwies, als meine Großmutter ihm überschwänglich dankte). Ohne Menschen wie diese – und zweifellos viele andere, denen ich nie begegnet bin und die auch bei Shatner nicht vorkommen – hätte es kein Wunder gegeben.
Es war Nachmittag, als ich von Worths Unfall hörte. Mein Vater rief mich an und sagte mir geradeheraus, dass meinem Bruder »etwas passiert« sei. Ich fragte, ob Worth überleben würde, und nach einer abscheulichen Pause sagte er: »Ich weiß es nicht.« Ich stieg ins Auto und fuhr von Tennessee nach Lexington, für den Fünf-Stunden-Trip brauchte ich dreieinhalb. Auf dem Parkplatz des Krankenhauses erwarteten mich meine beiden Onkel mütterlicherseits, zweieiige Zwillinge und Geschäftsleute in Lexington. Sie brachten mich zur Intensivstation. Im Aufzug erklärten sie mir Worths Zustand, und dass sein Herz auf dem Weg ins Krankenhaus fünfmal stehengeblieben sei, gefangen in einem Zustand, den Captain Jones in der Rescue 911 -Folge als »Asystolie« diagnostiziert, als »todbringenden Rhythmus«. Wenn ich ihn richtig
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