Pulphead
meinem Vater bedanken. Mein Sohn meinte: ›Erzähl ihm, was für ein Arschloch der Typ war, Papa.‹ Darauf ich: ›Ach, der kennt diesen ganzen Quatsch doch.‹«
»Haben Sie vielleicht das Gefühl, es ist jetzt lange genug her und Sie können über alles reden?«
»Scheiße, was weiß ich. Ich schätze, er wird den Artikel wahrscheinlich sehen und mich dann anrufen. Was er echt lange nicht gemacht hat. Ich würd einfach gern mal wieder mit ihm reden und hören, was bei ihm eigentlich so los gewesen ist.«
»Ist er für Sie immer noch ein Freund?«, fragte ich. »Keine Ahnung. Der Typ fehlt mir einfach. Ich kann ihn gut leiden.«
Wir schwiegen einen Moment, dann beugte Gregory sich zur Seite und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Er klappte es auf und entnahm ihm ein zusammengefaltetes Stück weißes Notizpapier. Das er mir ungeöffnet in die Hand legte. »Nehmen Sie das hier mit in Ihren Artikel«, sagte er. »Er wird wissen, was es bedeutet.« Nach dem Interview stieg ich sofort in mein Auto und dachte erst wieder an den Zettel, als ich schon im Flugzeug saß. Zwei mit Bleistift geschriebene Zeilen standen darauf, aus dem Song »Estranged« vom Album Use Your Illusion II :
»But everything we've ever known's here.
I never wanted it to die . «
6.
Axl hat mal gesagt: »Ich singe mit fünf oder sechs verschiedenen Stimmen, die alle ein Teil von mir sind. Keine davon ist künstlich.« Das sehe ich genauso. Eine der Stimmen ist ein überraschend passabler Bariton. Die wichtigste Stimme aber ist die Teufelsfrau. Sie kommt aus einem tieferen Bereich von Axl als alle anderen. Meistens fährt sie erst gegen Ende eines Songs in ihn. Der dramatische Konflikt zwischen der Teufelsfrau und ihrem gutmütigen, melodischen Yang – dem Axl, der solche Zeilen singt wie »Her hair reminds me of a warm, safe place«, »If you want to love me, then darling, don't refrain« und »Sometimes I get so tense« – ist genau das, was die größten Guns-N'-Roses-Stücke hervorgebracht hat. Nehmen wir »Sweet Child O' Mine«. Man mag diesen Song mit seinen Killerriffs und seinem merkwürdig gestrig klingenden Refrain sofort, von Anfang an. Aber es hängt ein Schwert über ihm. Man spürt: Das ist noch nicht alles. Ich bitte Sie, wer gibt sich schon mit einer solchen Zeile zufrieden: »Now and then when I see her face / It takes me away to that special place?« Was soll der Quatsch?
Dann aber, ungefähr bei fünf Minuten und vier Sekunden, ist sie da. Der Song ist zu diesem Zeitpunkt schon in Moll umgeschwenkt, die Wolken haben sich langsam zusammengeballt, und ich kann dieses großartige, intelligente Solo nicht hören, ohne dass ich Axl vor mir sehe, wie er sich zu dessen Beginn an einen Ort verabschiedet, wo er für sich ist. Während sein Körper gewisse Veränderungen durchläuft. Was ich daran so schätze, ist, wie er, wenn er wieder zu sich zurückkehrt, über sich hinausgewachsen ist (»fünf oder sechs Stimmen, die alle ein Teil von mir sind«); er ist eigentlich noch lange nicht fertig mit seinen ganzen Ichs, wenn dieses furchterregende Timbre sich mit Brachialgewalt seinen Weg bahnt. Und was hat sie zu sagen, die Teufelsfrau? Das, was sie immer zu sagen hat. Ist Ih
nen das schon mal aufgefallen? Mir bislang noch nicht. »Sweet Child«, »Paradise City«, »November Rain«, »Patience«, alle diese Songs münden in eine Coda – Axl als Poet der dunklen, unerlösten Coda –, die wiederum jeweils was für eine Aussage trifft? Diese: »Everybody needs somebody.« – »Don't you think that you need someone?« – »I need you. Oh, I need you.« – »Where do we go? Where do we go now? Where do we go?« – »I wanna go.« – »Oh, won't you please take me home?« – »Take me down.«
7.
Als ich so um die siebzehn war, fuhr ich mit meinem ältesten Freund Trent zurück nach Indiana. Wir beide waren in derselben kleinen Stadt am Fluss aufgewachsen und ungefähr zur gleichen Zeit weggezogen, um woanders zur Schule zu gehen, verklärten also beide ein bisschen die Plätze unserer Kindheit und unsere früheren Spielkameraden – man kennt das ja. Im Sommer vor unserem letzten Highschool-Jahr unternahmen wir einen Nostalgietrip nach Hause, um bei allen vorbeizuschauen und zu hören, wie es ihnen so ergangen war. Wir schreiben 1991, das Jahr, in dem Use Your Illusion rauskam. Andauernd lief »Don't Cry« im Radio, und es machte Spaß mitzusingen. Trotzdem stand mir einer der trostlosesten Nachmittage
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