Pulphead
wie Fäustlinge, als ich mit ihm sprach. Irgendwann kam ein Nationalgardist vorbei, gab ihm ein Paket Cracker und eine warme Dose Coca-Cola und zeigte ihm den Weg zur Unterkunft. »Als ich das Kreuz sah«, sagte er, »wusste ich, dass ich gerettet war.«
Trotzdem schlich er sich in der nächsten Nacht davon und ging zu einem Strand unweit des Ortes, wo einmal sein Haus gestanden hatte. »Ich konnte nicht anders«, sagte er. »Das war mein Strand, verstehst du? Ich musste das sehen. Alles weg. Die Villen, die Casinos. Der Gehweg, Mann. Ich saß da bis vier Uhr morgens und habe geweint.«
In der Unterkunft gab es einen älteren Mann, drahtig und dunkel, etwa Ende fünfzig. Auf beiden Seiten seines Lächelns hatte er einen einzelnen Zahn, die Symmetrie war perfekt. Sein Name war Ernel Poché, aber in der Unterkunft nannten sie ihn nur Boots, weil er mit einem Paar übergroßer dreckig-weißer Gummischuhe aus seinem Haus geflohen war, die er seitdem nicht wechseln wollte. Er erzählte mir, dass er sich Sorgen um seine Tante mache. »Wir sind eine kleine Familie«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob sie rausgekommen ist.« Als der
Mann vom Roten Kreuz zum ersten Mal den Fernseher angemacht und auf CNN geschaltet hatte, sah Boots ein Bild des Viertels, in dem seine Tante wohnte. Es lag unter Wasser. »Das war sehr beunruhigend«, sagte er.
Alles weg. Das waren die Worte, die hier alle verwendeten. Was ist mit deinem Haus? Hat es dein Haus erwischt? »Oh, alles weg, Schätzchen. Alles weg.« Die Wände »hat's weggepustet«. Die Zukunft war weggerissen und durch eine gewaltige Leerstelle ersetzt worden. Man fragte die Leute, was sie jetzt tun, wohin sie gehen würden, wie lange sie in der Unterkunft bleiben dürften. Sie sahen einen an, als würden sie sehr angestrengt über etwas völlig anderes nachdenken.
Es war Nachtruhe. Der Generator lief lediglich für eine Reihe Notleuchten im Flur, wo die Leute auf Matten lagen und schliefen. Mir war ein Platz in einem kleinen Klassenzimmer mit Bastelpapierbildern an den Wänden zugewiesen worden. Etliche Leute waren noch wach, sie flüsterten in kleinen Gruppen. Man hörte Babys schreien. Ein alter Weißer mit langem Bart, ohne Hemd und mit hängenden, haarigen Herrentitten hustete, ein schreckliches Bellen. »Mir sitzt eine Tablette quer!«, krächzte er. Ein anderer Typ erinnerte den Leiter der Unterkunft immer wieder daran, dass er ernsthaft manisch sei und schon seit fünf Tagen seine Medikamente nicht mehr genommen habe. »Und du weißt, wie das ist, wenn du deine Pillen nicht nimmst!«, hatte er mindestens vier Leuten erklärt. Eine Frau sagte dem Verantwortlichen, dass das Rote Kreuz »das Fernsehen zensieren müsse«, sie hätte in der Kantine ein paar Kinder erwischt, die Sexfilme geguckt hätten. »Richtig dreckiges Zeug«, sagte sie, »mit Brustwarzenlecken und allem.«
Ich stand auf und ging nach draußen. Auf einer kleinen Terrasse hinter dem Haus fand ich eine paar Leute, die sich im Laternenlicht unterhielten. Sie waren wunderbar aufgekratzt. Die meisten Leute in den Notunterkünften waren schon vor
dem Sturm ziemlich weit unten gewesen. Ein paar von ihnen hatten berechtigte Hoffnungen, dass die neuen Unterkünfte der Katastrophenschutzbehörde schöner sein würden als die Wohnungen, in denen sie seit Jahren gelebt hatten.
Dort auf der Terrasse saß der am Hals tätowierte Krabbenfischer Bill Melton, ein dicker, fröhlicher Weißer mit Bart, entspannt in einem Holzsessel, daneben ein schwarzes Paar in den Vierzigern, R. J. und Jacqueline Sanders. Ich fragte, ob sie sich alle schon vor dem Sturm gekannt hatten. Weil er meine Frage missverstand (oder eventuell gerade weil er das Richtige heraushörte), sagte Melton: »Farbe zählt hier nicht, Mann. R. J. und Miss Jackie sind jetzt Bruder und Schwester für mich.« Dieses fast utopische Gefühl wurde hier oft geäußert. Auf dem Flur sprachen ein alter Mann und eine alte Frau miteinander. »Diese Reichen«, sagte er. »Mir egal, wie viel Geld du hast. Wir sind jetzt alle gleich. Deswegen sehe ich immer auf zu Gott. Mir ist egal, wie hoch ich komme.«
Bill und R. J. und Miss Jackie gehörten zu den wenigen Menschen in der Schule, die mit ihrer Situation fertigzuwerden schienen, indem sie ständig und fast verzweifelt in Bewegung blieben. Das Rote Kreuz stellte mehr als genug abgepackte Mahlzeiten für alle zur Verfügung, aber sie hatten die Frau, die den Speisesaal der Schule betrieb, überzeugen können,
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