Pulphead
ich ihn aus den Augen verlor.
Nach Katrina
Wenn man entlang des Golfs von Mexiko nach Osten fuhr, stieß man etwa bei Slidell auf erste Anzeichen dafür, dass etwas Monströses über die Gegend gekommen war. Ganze Wälder ausgewachsener Kiefern waren auf Kniehöhe abgehackt, als hätte eine Druckwelle sie erfasst. Die riesigen schwarzen Metallmasten der Werbetafeln an den Highways waren in der Mitte abgeknickt, die oberen Teile baumelten zackig geborsten herunter. Am unheimlichsten waren die totgefahrenen Tiere. In Mississippi ist das nichts Ungewöhnliches, aber jetzt sah man zwischen Waschbären und Wild und dem gelegentlichen Gürteltier auch etliche Hunde, die gesund aussahen und Halsbänder trugen, aber tot waren – mit anderen Worten: Das waren keine Streuner, zumindest nicht bis vor ein paar Tagen. Und diese kleinen, schwarzen Geier, die es dort unten gibt, mit ihren graubeschnabelten Gesichtern wie venezianische Masken, hüpften auf die Straße und pickten an den Hunden herum.
Das war der äußere Rand dessen, was der Hurrikan angerichtet hatte. Wenn man bei Gulfport die Küste erreichte, lag ein Geruch in der Luft, den man nicht länger als vielleicht fünfundvierzig Sekunden ertrug. Ich kannte ihn, hatte ihn jedoch noch nie in der Ersten Welt gerochen. Es war der Geruch großer organischer Dinge, die seit Tagen tot in der brennenden Sonne lagen. Sattelschlepper und Boote – besser: Schiffe – waren zu Dutzenden in die Luft gehoben und eine halbe Meile weit geschleudert worden, es hatte sie herumgewirbelt und zermalmt. Das alles schien den Gesetzen der Physik zu widersprechen, die Dinge waren Miniaturen, eine von einem wüten
den Kind ausgekippte Spielzeugkiste. Wo massive Häuser gestanden hatten, waren jetzt nur noch nackte Holzgerüste. Wind und Wasser waren einfach durch sie hindurchmarschiert und hatten sämtliche Ziegel, Bretter und Schindeln weggeräumt. Sogar die Kloschüsseln waren weggesprengt.
Katrina hatte mit ziemlicher Sicherheit die gewaltigste Sturmflut ausgelöst, die jemals in den Vereinigten Staaten verzeichnet wurde: Die offiziellen Zahlen stehen noch aus, aber es waren wohl um die neun Meter. Die meisten Menschen, die in Mississippi starben, fielen der fürchterlichen Geschwindigkeit der Flut zum Opfer. Eben standen sie noch am Fenster, sie hörten den Wind und überlegten, ob sie fliehen sollten, und schon versuchten sie, die obersten Äste der Bäume zu fassen, an denen sie vorbeirauschten. Eine ältere Frau erzählte mir, dass eine riesige Meeresschildkröte durch ihre Küche schwamm, während sie auf der Anrichte hockte.
In der Notunterkunft, die das Rote Kreuz in der Harrison Central Elementary School in Gulfport eingerichtet hatte, hörte man immer wieder, wie Leute berichteten, sie seien »durch die Vordertür geschwommen«. Einer von ihnen war Terry DeShields, ein gepflegter, muskulöser Schwarzer mit einem ordentlich getrimmten Schnurrbart und einer üblen, aber abgeheilten Verbrennung am linken Arm. Der Hurrikan hatte die Küste an seinem Geburtstag erreicht. Terry hatte auf dem Sofa gesessen und sich gedacht, er könne »vor diesem Etwas davonlaufen«. Er machte ein Nickerchen. Als er aufwachte, stand das Wasser zwei Meter hoch in seinem Wohnzimmer. »Ich hörte dieses Poltern«, sagte er, »und dachte, oh Gott, jetzt geht's los!« Er erreichte die Tür nur wenige Sekunden, ehe die Welle »die Wände rausdrückte«.
»Der Wind pustet mich durch die Gegend«, sagte er. »Ich krache gegen Bäume. Um mich herum schwimmen Schlangen – und ich bin kein großer Schlangenfreund.«
DeShields wurde durch sein Viertel gespült, er suchte nach
etwas, auf das er klettern konnte. Die Welle schwemmte ihn auf den Parkplatz hinter einem Chinarestaurant, wo er zwei von diesen Großküchenöfen sah, der eine auf dem anderen festgeschraubt. Der obere lag noch über dem Wasserspiegel. DeShields zog sich hoch und rollte sich zusammen. Stundenlang toste der Hurrikan um ihn herum. Das schien mir eine Menge Zeit zum Nachdenken, also fragte ich ihn, woran er gedacht habe. »Ganz einfach«, sagte er. »Ich werde sterben.«
Als das Wasser zurückging, stieg er runter und machte sich auf die Suche nach etwas zum Essen. »Es gab noch keine Notunterkünfte«, sagte er. »Zumindest wusste ich nicht, wo.« Er trug Unterwäsche und einen Socken. Zwei Tage lang irrte er durch die sengende Hitze. Er schlief im Wald auf dem Boden. Seine Hände waren von den Moskitostichen immer noch geschwollen
Weitere Kostenlose Bücher