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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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ist, als habe er im Augenblick seiner Geburt den Mund aufgemacht und diesen Namen für sich beansprucht. Wenn man ihn ansieht, will man sofort »Lil' Dog« sagen. Er ist ein kleiner, kräftiger Kerl mit sandblondem Haar und ulkigem Grinsen, der
immer doppelt so schwer ist wie erwartet, wenn man ihn hochhebt.
    Über einen Verwandten war Shell an ein paar vergünstigte Tickets für uns sieben gekommen. Es schien gerade mal ein Tag vergangen zu sein, seit diese Nachricht vage zu mir durchgedrungen war, als ich mich schon am Steuer des schwarzen Hondas wiederfand und von North Carolina aus in südwestlicher Richtung fuhr. Dass es tatsächlich so schnell ging, ist nicht unwahrscheinlich. M. J. überrumpelt mich oft mit Ausflügen und fest zugesagten Terminen, manchmal tatsächlich von heute auf morgen, weil sie genau weiß, dass ich ihr, wenn sie den Zeitfaktor aus dem Spiel nimmt, nicht mit irgendwelchen neurotischen Ausreden kommen kann. Diesen Strategien verdanke ich einige meiner schönsten Urlaubserinnerungen, und sie belegen den Wert einer überaus nützlichen Regel für alle Paare: Versuchen Sie nicht, einander zu ändern . Analysieren und überlisten Sie einander.
    Das Wohnmobil mit Shell, Trevor, Flora und Lil' Dog kam aus Chattanooga, von wo aus es in südsüdöstlicher Richtung fuhr. Wir näherten uns einander an wie zwei Geraden auf einem grafikfähigen Taschenrechner. Wenn man nicht sehr, sehr stark ist, wird man eines Tages disneyen, und jetzt waren wir dran, der Interstate 95 vor uns eine grelle Zeitleiste des Schicksals. Es war Samstag. Am nächsten Tag war Vatertag. Wie sich herausstellte, war die ganze Reise offiziell ein Vatertagsgeschenk für mich und Trevor, was in meinem Fall so war, als hätte man mich mit einem Betäubungspfeil beschossen, überwältigt und zu meiner eigenen Geburtstagsfeier verschleppt. Trotzdem machte ich mir kaum Sorgen – in Situationen völliger Alternativlosigkeit fühlt man sich seltsam frei. Im Rückspiegel zerrte Mimi vor lauter Ungeduld an ihrem Gurt. Meine Highway-Gedanken durchliefen eine merkwürdige Phase der Dankbarkeit gegenüber der Person Walt Disneys, die eine so intensive kindliche Freude möglich gemacht hatte. Vielleicht
dachte Trevor, Hunderte von Kilometern entfernt und mit jeder Minute näher kommend, gerade dasselbe über seinen Nachwuchs.
     
    Eine Sache sollte ich zu Trevor sagen (was ich niemals tun würde, wenn es nicht für diese Geschichte wichtig wäre): Er raucht eine unfassbare Menge Gras. Stellen Sie sich jemanden vor, der eine Packung Zigaretten pro Tag raucht, also zwanzig Zigaretten. Trevor raucht an manchen Tagen ungefähr so viele Joints, den ersten schon, während er morgens Kaffee macht. Und trotzdem funktioniert er in sozialer und beruflicher Hinsicht hervorragend, meistens jedenfalls. Ich habe auch schon erlebt, dass er eine Unterhaltung verbockt. Aber ansonsten – fast immer – ist er einer der klügsten und interessantesten Menschen, die ich kenne. Um es noch mal zu sagen: Der Typ ist immer high, die ganze Zeit. Und ich meine nicht von solchem Zeug, das Ihr Mitbewohner früher hinterm Haus angebaut hat; wir reden hier von Premium-Gras aus Kalifornien, das Trevor über eine Art landesweite Genossenschaft für medizinisches Marihuana bezieht, die den legal erworbenen Stoff von Kalifornien aus in die anderen Staaten verschiebt. Das funktioniert offenbar genauso wie der normale Handel mit Gras, nur unterstützt man dabei kein kriminelles Netzwerk. Abgesehen davon, dass man selbst Teil eines kriminellen Netzwerks ist. Das ist einer der vielen Widersprüche unserer Zeit, in der die eine Hälfte des Landes Gras für harmloser hält als Alkohol, und die andere darin eine gefährliche Einstiegsdroge sieht. Einmal habe ich Trevor nach seinen Bezugsquellen gefragt. Leider gebe es eine feste Regel, sagte er: kein Wort zu Freunden.
    Als Trevor und ich uns anfreundeten – wir waren damals Anfang zwanzig und Nachbarn –, rauchte ich selbst ein bisschen, fast war es, als wollte ich mit ihm konkurrieren. Aber als ich dreißig wurde, ließ ich es ruhiger angehen. Ich mag
das Zeug immer noch und glaube auch, dass es mir gutgetan hat, aber allmählich machte mich das Rauchen dumm, und mit dreißig war ich demütig genug, um zu erkennen, dass ich nicht mit genug geistiger Munition auf die Welt gekommen war, um sie einfach so zu verballern. Trevor hingegen blieb dabei. Und um ehrlich zu sein: Wenn wir uns ein paarmal im Jahr sehen, falle ich den

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