Puls
kauerte weiterhin zusammengesunken auf dem Treppenabsatz. Von dort aus konnte er die Fenster im Erdgeschoss nicht sehen, was Clay nur gut fand. Das nachmittägliche Licht in der Cheatham Lodge war weit trüber, als es hätte sein sollen, und das war ganz entschieden nicht gut.
Es war trüber, weil an allen Fenstern, die er sehen konnte, Handy-Verrückte hingen, die sich an die Scheiben drängten und hereinspähten: Dutzende, vielleicht sogar hunderte dieser eigentümlich leeren Gesichter, die meisten von den Schlachten, in denen sie gekämpft, und den Wunden, die sie in der vergangenen anarchischen Woche erlitten hatten, mehr oder weniger gezeichnet. Clay sah ausgeschlagene Zähne und Augen, eingerissene Ohren, Prellungen, Brandwunden, Hautabschürfungen und herabhängende Fleischlappen, die schwarz zu werden begannen. Sie gaben keinen Laut von sich. Sie waren von einer Art gehetzten Gier umgeben, und zugleich hing wieder jenes Gefühl in der Luft, jene atemlose Präsenz irgendeiner gewaltigen wirbelnden Macht, die nur mühsam im Zaum gehalten wurde. Clay erwartete, dass die Waffen ihnen jeden Augenblick aus den Händen flogen und von selbst zu schießen begannen.
Auf uns, dachte er.
»Jetzt weiß ich, wie's den Hummern im Becken bei Harbor Seafood am Halbpreis-Dienstag zumute ist«, sagte Tom mit schwacher, gepresster Stimme.
»Ganz ruhig«, sagte Clay. »Lasst sie den ersten Zug machen.«
Aber es gab keinen ersten Zug. Nach einem weiteren lang gezogenen Hämmern - ein Geräusch, als würde etwas auf die Veranda vor dem Haus gekippt, wie Clay fand - wichen die Gestalten an den Fenstern wie auf ein nur für sie hörbares Signal hin zurück. Sie taten das in geordneter Formation. Jetzt war zwar nicht die Tageszeit, zu der sie sich normalerweise sammelten, aber die Verhältnisse hatten sich eben geändert. So viel war offensichtlich.
Clay trat mit seinem Revolver in der herabhängenden Hand ans Erkerfenster im Wohnzimmer. Tom und Alice folgten ihm. Sie beobachteten, wie die Handy-Verrückten (die Clay überhaupt nicht mehr verrückt erschienen, zumindest nicht auf eine ihm begreifliche Weise) sich zurückzogen, indem sie mit unheimlicher, eleganter Lockerheit rückwärts gingen, dabei aber niemals den kleinen Freiraum verletzten, von dem jeder und jede von ihnen umgeben war. Auf halber Strecke zwischen der Cheatham Lodge und den rauchenden Überresten des kleinen Fußballstadions machten sie Halt wie irgendein zerlumptes Armeebataillon auf einem mit Laub übersäten Exerzierplatz. Ihre nicht ganz leeren Blicke blieben alle auf die Dienstvilla des Rektors gerichtet.
»Warum sind ihre Hände und Füße ganz rußig?«, fragte jemand schüchtern. Sie sahen sich um. Es war Jordan. Clay waren der Ruß und die Asche an den Händen der schweigenden Hundertschaften vor ihnen gar nicht aufgefallen, aber bevor er das sagen konnte, beantwortete Jordan die eigene Frage. »Sie waren dort, um es sich anzusehen, stimmt's? Klar. Sie wollten sehen, was wir mit ihren Freunden getan haben. Und sie sind zornig. Das spüre ich. Spürt ihr das nicht auch?«
Clay wollte das nicht bejahen, aber natürlich konnte er das auch spüren. Diese bedrückende Spannung in der Luft, dieses Gefühl von dräuendem Donner, der durch ein Netz aus Elektrizität kaum gebändigt wurde: Das war Wut. Er dachte an Pixie Light, die sich in den Hals von Power Suit Woman verbissen hatte, und die ältere Frau, Siegerin der Schlacht vor der U-Bahn-Station Boylston Street, die mit großen Schritten in Richtung Stadtpark davongegangen war, während ihr das Blut aus ihrem kurz geschnittenen stahlgrauen Haar tropfte. An den jungen Mann, nackt bis auf seine Sportschuhe, der im Vorbeilaufen mit abgebrochenen Autoantennen in beiden Händen herumgefuchtelt hatte. So viel Wut ... und die sollte sich einfach verflüchtigt haben, als die Schwärme sich zu sammeln begonnen hatten? Nein, davon durfte man nicht ausgehen.
»Ich spüre es«, sagte Tom. »Jordan, wenn sie psychische Kräfte besitzen, warum zwingen sie uns dann nicht einfach dazu, uns selbst oder uns gegenseitig umzubringen?«
»Oder warum lassen sie uns nicht unsere Köpfe explodieren?«, sagte Alice. Ihre Stimme zitterte. »Das habe ich mal in einem alten Film gesehen.«
»Keine Ahnung«, sagte Jordan. Er sah zu Clay auf. »Wo ist der Lumpenmann?«
»So nennst du ihn?« Clay warf einen Blick auf seine Porträtskizze, die er weiter in der Hand hielt - das aufgerissene Fleisch, die löchrige Kapuzenjacke,
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