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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Spielfelds aufgereiht gewesen. Kein Fußballfeld wie der Tonney-Sportplatz -aber vielleicht ein Footballfeld? Im Hintergrund hatte irgendeine skelettartige Konstruktion aufgeragt, die von einer roten Blinkleuchte gekrönt wurde. Er hatte keine Ahnung, was das gewesen war, aber er wusste, dass die Tribünen voller Leute gewesen waren, die sie beobachtet hatten: Leute mit ruinierten Gesichtern und zerfetzter Kleidung, die er nur allzu gut kannte. Seine Freunde und er waren in ... waren sie in Käfigen gewesen? Nein, auf Podesten. Und die waren zugleich Käfige, obwohl sie keine Gitter hatten. Wie das möglich war, wusste Clay nicht, aber so war es nun einmal. Er fing bereits an, Einzelheiten seines Traums zu vergessen.
    Tom hatte am einen Ende ihrer Reihe gestanden. Ein Mann war auf ihn zugetreten, ein besonderer Mann, und hatte ihm eine Hand über den Kopf gehalten. Clay wusste nicht mehr, wie der Mann das hatte tun können, wo Tom doch - wie Alice, Jordan und er selbst -auf einem Podest stand, aber er hatte es getan. Und er hatte gesagt: »Ecce homo - insanus.« Und die Menge - tausende von Leuten - hatte im Chor »NICHT BERÜHREN!« geröhrt. Der Mann war zu Clay weitergegangen und hatte diesen Vorgang wiederholt. Mit einer Hand über Alice' Kopf hatte der Mann gesagt: »Ecce femina - insana.« Und über Jordans: »Ecce puer - insanus.« Jedes Mal hatte die Antwort gleich gelautet: »NICHT BERÜHREN!«
    Weder dieser Mann - der Showmaster? der Zirkusdirektor? -noch die Leute in der Menge hatten bei diesem Ritual den Mund geöffnet. Rede und Gegenrede hatten rein telepathisch stattgefunden.
    Indem Clay alles Denken seiner rechten Hand überließ (der Hand und dem speziellen Winkel seines Gehirns, von dem sie gesteuert wurde), begann er jetzt, ein Bild zu Papier zu bringen. Der ganze Traum war furchtbar gewesen - die fälschliche Anschuldigung darin, die Hilflosigkeit darin -, aber nichts war so schlimm gewesen wie der Mann, der von einem zum anderen gegangen war und jedem die flache Hand über den Kopf gehalten hatte wie ein Auktionator, der im Begriff war, auf einer Landwirtschaftsausstellung Vieh zu versteigern. Clay hatte das Gefühl, das Entsetzen festhalten zu können, wenn es ihm gelang, das Bild dieses Mannes auf Papier festzuhalten.
    Es war ein Schwarzer mit einem aristokratischen Kopf und dem Gesicht eines Asketen über einem hageren, fast ausgemergelten Körper. Das Haar bildete eine enge Kappe aus schwarzen Locken, die auf einer Seite durch eine hässliche dreieckige Schürfwunde aufgerissen war. Die Schultern waren schmal, die Hüften nur angedeutet. Unter der Lockenkappe skizzierte Clay rasch die breite, wohl geformte Stirn - die eines Gelehrten. Dann entstellte er sie durch eine Schnittwunde und schraffierte den herabhängenden Hautlappen, der eine der Augenbrauen teilweise verdeckte. Die linke Wange des Mannes war aufgerissen, vielleicht durch einen Biss, und die auf dieser Seite gespaltene Unterlippe hing wie müde hohnlächelnd herab. Die Augen waren ein Problem. Clay konnte sie nicht richtig hinbekommen. Im Traum hatten sie hellwach und doch irgendwie unbelebt gewirkt. Nach zwei Versuchen gab er auf und zeichnete dafür die Jacke, bevor er vergaß, wie sie ausgesehen hatte: eine Kapuzenjacke (ROT schrieb er in Druckbuchstaben mit einem Pfeil dazu) mit weißem Aufdruck auf der Brust. Sie war für den hageren Körper viel zu groß gewesen, und eine Falte im Stoff hatte die obere Hälfte des aufgedruckten Wortes verdeckt, aber Clay war sich ziemlich sicher, dass dort HARVARD gestanden hatte. Er war eben dabei, dieses Wort einzusetzen, als irgendwo unter ihm das Weinen, leise und gedämpft, einsetzte.

28
    Es war Jordan, das wusste Clay sofort. Während er seine Jeans anzog, sah er sich einmal nach Tom um, aber Tom hatte sich nicht bewegt. Ausgezählt, dachte Clay. Er öffnete die Tür, schlüpfte hinaus und schloss sie hinter sich.
    Alice, die ein T-Shirt der Gaiten Academy als Nachthemd trug, saß auf dem Treppenabsatz im ersten Stock und hielt Jordan umarmt Der Kopf des Jungen war an ihre Schulter gepresst. Sie sah auf, als sie Clay barfuß die Treppe herunterkommen hörte, und sprach, bevor Clay etwas fragen konnte, das er später vermutlich bereut hätte: Ist's der Rektor?
    »Er hat schlecht geträumt«, sagte sie.
    Clay fragte das Erste, was ihm in den Sinn kam. In diesem Augenblick erschien es ihm entscheidend wichtig. »Du auch?«
    Sie runzelte die Stirn. Mit nackten Beinen, das Haar zu einem

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