Puls
aber weder der Lumpenmann noch sonst jemand aus dessen Truppe schien sich davon bedroht zu fühlen. Clays Handflächen wiesen nach vorn: Was wollt ihr?
Der Lumpenmann lächelte. In seinem Lächeln lag kein Humor. Clay glaubte, in den dunkelbraunen Augen Zorn sehen zu können, aber er hielt ihn für nur oberflächlich. Darunter glomm nicht der geringste Funke, zumindest keiner, den er wahrnehmen konnte. Es war fast so, als sähe man eine Puppe lächeln.
Der Lumpenmann legte den Kopf leicht schräg und hob einen Finger - Warte. Und weit unter ihnen auf der Academy Avenue erklangen wie auf ein Stichwort hin viele Schreie. Das Kreischen von Menschen, die Höllenqualen litten. Dazwischen ein paar kehlig heisere Raubtierlaute. Nicht viele.
»Was macht ihr?«, rief Alice laut. Sie trat vor, wobei sie den Baby-Nike krampfhaft mit einer Hand zusammendrückte. Ihre Unterarmsehnen traten so stark hervor, dass sie Schatten erzeugten, die wie lange Bleistiftstriche über ihre Haut liefen. »Was tut ihr den Leuten da unten an?«
Also ob es da, dachte Clay, irgendwelche Zweifel gäbe.
Alice hob die Hand, in der sie noch die Pistole hielt. Tom packte die Waffe und entrang sie ihr, bevor sie abdrücken konnte. Sie wandte sich gegen ihn und krallte mit ihrer freien Hand nach ihm.
»Gib sie wieder her, hörst du das denn nicht? Hörst du's nicht?«
Clay zerrte sie von Tom weg. Vom Eingang aus beobachtete Jordan das alles mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, und der Lumpenmann stand an der Spitze des Keils und lächelte mit einem Gesicht, auf dem der Humor mit Wut unterlegt war, und unter der Wut ... kam nichts mehr, soweit Clay das beurteilen konnte. Überhaupt nichts.
»Sie war ohnehin gesichert«, sagte Tom nach einem raschen Blick. »Gott sei Dank.« Und zu Alice: »Willst du, dass wir umgebracht werden?«
»Glaubst du vielleicht, dass sie uns einfach gehen lassen?« Sie weinte so heftig, dass es schwierig war, sie zu verstehen. Aus ihren Nasenlöchern hingen zwei durchsichtige Rotzfäden. Von unten, von der mit Bäumen gesäumten Avenue, die an der Gaiten Academy vorbeiführte, kamen Gekreisch und Schreie. Eine Frau kreischte: Nein, bitte nicht bitte nicht, dann gingen ihre Worte in gellendem Schmerzensgeheul unter.
»Ich weiß nicht, was sie mit uns vorhaben«, sagte Tom mit krampfhaft um Fassung bemühter Stimme, »aber wenn sie uns umbringen wollten, würden sie sich das hier sparen. Sieh ihn dir an, Alice - was dort unten passiert, wird eigens für uns veranstaltet.«
Es gab ein paar Schüsse, weil irgendwelche Leute sich wohl zu verteidigen versuchten, aber nicht viele. Meistens waren nur Geschrei und Gekreisch zu hören, die von Schmerzen und schrecklicher Überraschung kündeten und alle aus dem Gebiet kamen, das der Gaiten Academy, wo der Schwarm dem Brandanschlag zum Opfer gefallen war, genau gegenüberlag. Das Ganze dauerte sicherlich nicht länger als zehn Minuten, aber manchmal, sagte Clay sich, war die Zeit wirklich relativ.
Es kam ihm wie Stunden vor.
30
Als die Schreie endlich verstummten, stand Alice schweigend und mit gesenktem Kopf zwischen Clay und Tom. Sie hatte die beiden Pistolen auf den für Hüte und Aktentaschen bestimmten Tisch gleich hinter der Haustür gelegt. Jordan hielt ihre Hand und sah zum Lumpenmann und seinen Begleitern hinaus, die sich auf dem Fußweg vor den Verandastufen aufgebaut hatten. Bisher war dem Jungen noch nicht aufgefallen, dass der Rektor fehlte. Clay wusste, dass er das bald merken würde - und damit würde die nächste Szene dieses Schreckenstages beginnen.
Der Lumpenmann trat vor und machte mit seitlich weggehaltenen Händen eine kleine Verbeugung, als wolle er zu Ihren Diensten sagen. Dann hob er den Kopf und wies mit einer Hand auf den Akademiehügel und die Academy Avenue, die sich darunter entlangzog. Dabei ließ er die hinter der Skulptur aus geschmolzenen Gettoblastern an der offenen Haustür versammelte kleine Gruppe nicht aus den Augen. Für Clay stand fest, was er damit sagen wollte: Die Straße ist euer. Nehmt sie also.
»Vielleicht«, sagte er. »Aber erst mal möchte ich eines klarstellen. Ihr könnt uns bestimmt erledigen, wenn ihr wollt, weil ihr uns zahlenmäßig überlegen seid, aber falls du nicht vorhast, im Hauptquartier zurückzubleiben, gibt's morgen einen neuen Befehlshaber. Weil ich persönlich dafür sorgen werde, dass es dich als Ersten erwischt.«
Der Lumpenmann legte beide Hände an die Wangen und machte große Augen: Du liebe
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