Puls
war das Kopfende, aber er war so übermüdet, dass er sich nicht genau erinnern konnte. Er wusste nicht einmal mehr, ob der Vorname des Rektors Charles oder Robert gewesen war. Nebelfäden kräuselten sich um Toms Fußgelenke und schlängelten sich um die abgestorbenen Bohnenranken. Er nahm seine Baseballmütze ab, und Alice tat es ihm gleich. Auch Clay wollte nach seiner Mütze greifen, aber dann fiel ihm ein, dass er ja keine trug.
»So ist's recht!«, rief Jordan. Aus seinem Grinsen sprach verzweifeltes Verstehen. »Hut ab! Hut ab vor dem Rektor!« Obwohl er selbst keine Mütze trug, tat er so, als nähme er eine ab - nähme sie ab und schleuderte sie in die Luft -, und Clay fürchtete abermals um den Geisteszustand des Jungen. »Jetzt das Gedicht! Los jetzt, Tom!«
»Also gut«, sagte Tom, »aber du musst still sein. Respekt zeigen.«
Jordan legte einen Finger auf die Lippen, um zu zeigen, dass er verstand, und Clay sah in den traurigen Augen über diesem erhobenen Zeigefinger, dass der Junge doch noch nicht den Verstand verloren hatte. Seinen Freund, ja, aber nicht seinen Verstand.
Er wartete und war neugierig darauf, was Tom als Nächstes sagen würde. Er rechnete mit etwas von Robert Frost, vielleicht mit einem Shakespeare-Fetzen (mit Shakespeare wäre der Rektor bestimmt einverstanden gewesen, selbst wenn es nur Sagt, wann ich euch treffen muss: In Donner, Blitz oder Regenguss? aus Macbeth gewesen wäre), vielleicht sogar mit einer kleinen Improvisation von Tom McCourt. Womit er nicht gerechnet hatte, waren die Worte, die jetzt langsam und gemessen aus Toms Mund kamen:
»Du aber, Herr, wollest deine Barmherzigkeit von uns nicht wenden; lass deine Güte und Treue allewege uns behüten. Denn es hat uns umgeben Leiden ohne Zahl; es haben uns unsere Sünden ergriffen, dass wir nicht sehen können; ihrer sind mehr denn Haare auf unseren Häuptern, und unser Herz hat uns verlassen. Lass dir's gefallen, Herr, dass du uns errettest; eile, Herr, uns zu helfen.«
Alice hielt ihren Turnschuh und weinte. Sie hatte den Kopf tief gebeugt. Ihr leises Schluchzen klang hektisch.
Tom sprach weiter, streckte eine Hand mit leicht gekrümmten Fingern über das frische Grab aus. »Schämen müssen sich und zuschanden werden, die uns nach unserem Leben trachten; zurück müssen sie fallen und zuschanden werden, die uns Übles gönnen. Sie müssen in ihrer Schande erschrecken, die über uns schreien: ›Da! Da!‹ Hier liegt der Tote, Staub der Erden ...«
»Es tut mir so Leid, Rektor!«, rief Jordan in sich überschlagendem Diskant aus. »Es tut mir so Leid, es ist nicht recht, Sir, tut mir so Leid, dass Sie tot sind ...« Er verdrehte die Augen nach oben und brach auf dem frischen Grab zusammen. Der Nebel griff mit gierigen weißen Fingern nach ihm.
Clay zog ihn hoch und ertastete den kräftigen, gleichmäßigen Puls an Jordans Hals. »Er ist nur ohnmächtig. Was war das, Tom?«
Tom wirkte verwirrt, verlegen. »Eine ziemlich freie Wiedergabe von Psalm vierzig. Kommt, wir tragen ihn .«
»Nein«, sagte Clay. »Wenn's nicht zu lange dauert, sprich zu Ende.«
»Ja, bitte«, sagte Alice. »Sprich zu Ende. Der Text ist wunderbar. Wie Salbe auf einer Wunde.«
Tom wandte sich wieder dem frischen Grab zu. Er schien sich zu sammeln, vielleicht musste er aber auch nur seine Stelle wiederfinden. »Hier liegt der Tote, Staub der Erden, und hier stehen wir Lebenden, arm und elend; Herr gedenke unser. Du bist unser Helfer und Erretter; mein Gott zögere nicht! Amen.«
»Amen«, sagten Clay und Alice gemeinsam.
»Los, wir tragen den Jungen rein«, sagte Tom. »Hier draußen ist's scheißkalt.«
»Hast du das von den heiligen Hannahs in der Ersten Neueng-ländischen Kirche von Christus dem Erlöser gelernt?«, fragte Clay.
»O ja«, sagte Tom. »Wenn man viele Psalmen auswendig konnte, hat's dafür Extranachspeise gegeben. Außerdem habe ich gelernt, an Straßenecken zu betteln und den ganzen Parkplatz von Sears in nur zwanzig Minuten mit Flugblättern wie Eine Million Jahre im Fegefeuer ohne einen einzigen Schluck Wasser zu bepflastern. Kommt, wir wollen den Jungen zu Bett bringen. Ich wette, dass er mindestens bis morgen Nachmittag um vier durchschläft und sich beim Aufwachen verdammt viel besser fühlt.«
»Was ist, wenn der Mann mit der aufgerissenen Backe zurückkommt und uns noch hier findet, obwohl er uns fortgeschickt hat?«, fragte Alice.
Clay hielt das für eine gute Frage, über die er jedoch nicht allzu viel
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