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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nachzudenken brauchte. Der Lumpenmann würde ihnen entweder einen weiteren Tag Aufschub gewähren, oder er würde es eben nicht tun. Als er Tom den Jungen abnahm und ihn nach oben in sein Bett trug, merkte Clay, dass er zu müde war, um sich viel darum zu kümmern, wie die ganze Sache ausgehen würde.

2
    Alice sagte Clay und Tom gegen vier Uhr morgens benommen gute Nacht und stolperte davon, ins Bett. Die beiden Männer saßen in der Küche und tranken lauwarmen Eistee, ohne viel zu reden. Es schien nichts zu sagen zu geben. Dann, kurz vor Tagesanbruch, rollte ein weiteres lautes Stöhnen, durch die Entfernung geisterhaft gemacht, durch die neblige Luft aus Nordosten heran. Es zitterte wie der Klang eines Ätherophons in einem alten Gruselfilm, und als es eben zu verhallen begann, kam ein weitaus lauterer Antwortschrei aus Gaiten, wohin der Lumpenmann seinen neuen, größeren Schwarm geführt hatte.
    Clay und Tom traten vors Haus, wo sie zunächst die Barriere aus verschmorten Gettoblastern beiseite schieben mussten, um die Verandatreppe hinuntergehen zu können. Zu sehen war jedoch nichts; die ganze Welt war weiß. Sie standen einige Zeit tatenlos herum, dann gingen sie wieder hinein.
    Weder der Todesschrei noch die Antwort aus Gaiten hatte Alice und Jordan geweckt; dafür konnten sie immerhin dankbar sein. Ihr Autoatlas, inzwischen verknickt und mit Eselsohren versehen, lag auf der Küchentheke. Tom blätterte darin, dann sagte er: »Der Schrei könnte aus Hooksett oder Suncook gekommen sein. Das sind mittelgroße Kleinstädte nordöstlich von hier - mittelgroß für New Hampshire, meine ich. Wie viele sie wohl erwischt haben? Und wie sie's wohl geschafft haben?«
    Clay schüttelte den Kopf.
    »Ich hoffe, dass es viele waren«, sagte Tom mit schwachem, freudlosem Lächeln. »Ich hoffe, dass es mindestens tausend waren und dass sie sie langsam gekocht haben. Ich denke dabei an eine Restaurantkette, von der ich leider den Namen vergessen habe, die ›gekochte Backhähnchen‹ angeboten hat. Wandern wir heute Nacht weiter?«
    »Ich glaube, das sollten wir, falls der Lumpenmann uns den Tag überleben lässt. Was denkst du?«
    »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte Tom, »aber ich will dir was sagen, Clay: Ich komme mir wie eine Kuh vor, die durch eine Blechrutsche ins Schlachthaus hinuntergetrieben wird. Ich kann fast das Blut meiner kleinen Muh-Brüder wittern.«
    Clay hatte dasselbe Gefühl, aber in diesem Zusammenhang tauchte stets dieselbe Frage auf: Weshalb wurden sie nicht gleich hier abgeschlachtet, wenn das Kollektivbewusstsein es aufs Abschlachten anlegte? Der Schwarm hätte sie schon gestern Nachmittag ermorden können, statt verschmorte Gettoblaster und Alice' Lieblingsturnschuh auf der Veranda zurückzulassen.
    Tom gähnte. »Ich gehe schlafen. Kannst du noch zwei Stunden wach bleiben?«
    »Schon möglich«, sagte Clay. Tatsächlich hatte er nie weniger Schlafbedürfnis gespürt als jetzt. Sein Körper war zwar erschöpft, aber sein Verstand arbeitete unermüdlich weiter. Immer wenn er etwas zur Ruhe zu kommen schien, erinnerte er sich wieder an das Geräusch, das der Füller beim Herausziehen aus der Augenhöhle des Rektors gemacht hatte: das leise Quietschen von Metall an Knochen. »Warum?«
    »Weil ich lieber auf meine Art als auf ihre aus dem Leben scheiden möchte, falls sie beschließen, uns heute zu erledigen«, sagte Tom. »Ich habe ihre Art gesehen. Einverstanden?«
    Clay dachte, wenn das von dem Lumpenmann verkörperte Kollektivbewusstsein den Rektor tatsächlich dazu gebracht hatte, sich den Füller ins Auge zu stoßen, würden die vier überlebenden Bewohner der Cheatham Lodge vermutlich feststellen, dass der Freitod nicht länger zu ihrer freien Wahl zählte. Das war jedoch kein Gedanke, mit denen er Tom ins Bett schicken wollte. Also nickte er.
    »Ich nehme alle Waffen mit nach oben. Du hast ja den großen alten Revolver, oder?«
    »Den Beth Nickerson Special. Genau.«
    »Dann gute Nacht. Und wenn du sie kommen siehst - oder sie kommen spürst -, rufst du laut.« Er zögerte kurz. »Das heißt, wenn du noch Zeit hast. Und wenn sie dich rufen lassen.«
    Clay beobachtete, wie Tom die Küche verließ, und überlegte sich, dass Tom ihm die ganze Zeit voraus gewesen war. Überlegte sich, wie gern er Tom hatte. Überlegte sich, dass er ihn gern besser kennen lernen würde. Überlegte sich, dass die Chancen dafür nicht gut standen. Und Johnny und Sharon? Sie waren ihm noch nie so fern

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