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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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dazu wie ein Illegaler, der im Oktober die kanadische Grenze überschritt, um sich als Apfelpflücker zu verdingen, durch Dornengestrüpp kriechen musste, dann würde er's eben tun. Beschlossen Tom und Alice zurückzubleiben, war das eben Pech. Er würde sie ungern verlassen . aber er würde es tun. Weil er sich Gewissheit verschaffen musste.
    Die rote Schlangenlinie, die Alice auf der Karte entdeckt hatte, hatte einen Namen - Dostie Stream Road - und war weitgehend hindernisfrei. Auf den vier Meilen bis zur Staatsgrenze sahen sie nur fünf oder sechs verlassene Fahrzeuge und bloß ein einziges Autowrack. Sie kamen auch an zwei Häusern vorbei, in denen Licht zu sehen und das Brummen von Notstromaggregaten zu hören war. Sie überlegten, ob sie dort einkehren sollten, kamen aber schnell wieder von dieser Idee ab.
    »Wahrscheinlich würden wir in ein Feuergefecht mit irgendeinem Kerl geraten, der Haus und Hof verteidigt«, sagte Clay. »Immer unter der Voraussetzung, dass dort überhaupt jemand ist. Diese Aggregate sind vermutlich automatisch angesprungen, als die Stromversorgung ausgefallen ist, und laufen, bis der Sprit verbraucht ist.«
    »Selbst wenn diese Leute normal wären und uns einlassen würden - was man wohl kaum als normal bezeichnen könnte -, was würden wir dann tun?«, sagte Tom. »Fragen, ob wir mal kurz telefonieren dürfen?«
    Sie diskutierten darüber, ob sie versuchen sollten, irgendwo ein Fahrzeug mitgehen zu lassen (wie Tom sich ausdrückte), entschieden sich letztlich aber auch da dagegen. Falls die Staatsgrenze von Polizei oder irgendwelchen Bürgerwehrlern bewacht wurde, war es vielleicht nicht gerade das Klügste, mit einem Chevy Tahoe vorzufahren.
    Also gingen sie zu Fuß, und an der Staatsgrenze gab es natürlich nichts außer einer Tafel (einer kleinen, wie sie zu einer zweispurigen Landstraße passte, die sich durch eine Bauerngegend schlängelte), auf der SIE BETRETEN JETZT NEW HAMPSHIRE und BIENVENUE! stand. Die einzigen Geräusche kamen von der abtropfenden Feuchtigkeit in dem Wald auf beiden Seiten der Straße und vom gelegentlichen Seufzen einer Brise. Manchmal auch vom Rascheln irgendeines kleinen Tieres. Sie blieben kurz stehen, um das Schild zu lesen, dann gingen sie weiter und ließen Massachusetts hinter sich.

9
    Jegliches Gefühl von Einsamkeit endete mit der Dostie Stream Road und einem Straßenschild, auf dem NH ROUTE 38 und MANCHESTER 19 MI stand. Auch hier auf der 38 waren zwar zunächst nur wenige Reisende unterwegs, aber als sie eine halbe Stunde später auf die 128 überwechselten - eine breite, mit Autowracks übersäte Straße, die fast genau nach Norden führte -, wurde dieses Rinnsal zu einem stetigen Strom von Flüchtlingen. Die meisten waren in kleinen Dreier- oder Vierergruppen unterwegs und ließen durch die Bank mangelndes Interesse für alle anderen außer sich selbst erkennen, was Clay ziemlich schäbig fand.
    Sie begegneten einer Frau Anfang vierzig und einem ungefähr zwanzig Jahre älteren Mann, die beide einen Einkaufswagen schoben, in dem jeweils ein Kind saß. Das in dem Wagen des Mannes war ein Junge, der eigentlich zu groß für das Wägelchen war, es aber trotzdem geschafft hatte, sich zusammenzurollen und einzuschlafen. Gerade als Clay und seine Begleiter diese fußlahme Familie überholten, fiel von dem Einkaufswagen des Mannes ein Rad ab. Der Wagen kippte zur Seite, sodass der Junge, der ungefähr sieben zu sein schien, auf der Straße landete. Tom bekam ihn an der Schulter zu fassen und konnte den Sturz noch abmildern, aber der Junge schürfte sich dennoch das Knie auf. Und er war natürlich sehr erschrocken. Tom hob ihn auf, aber da der Junge ihn nicht kannte, strampelte er, um von ihm wegzukommen, und heulte noch lauter.
    »Alles okay, danke, ich hab ihn«, sagte der Mann. Er nahm den Jungen mit und setzte sich mit ihm an den Straßenrand, wo er viel Wesens um das Wehweh machte - ein Ausdruck, den Clay nicht mehr gehört hatte, seit er sieben war. Der Mann sagte: »Gregory pustet jetzt drauf, dann ist gleich wieder alles gut.« Er pustete auf das aufgeschürfte Knie des Kleinen, der den Kopf an die Schulter des Vaters lehnte. Er war schon wieder dabei, einzuschlafen. Gregory nickte Tom und Clay lächelnd zu. Er wirkte fast zu Tode erschöpft: ein Mann, der vergangene Woche vermutlich noch ein schlanker, Nautilus-trainierter Sechziger gewesen war und jetzt wie ein 75-jähriger Jude aussah, der verzweifelt aus Polen zu flüchten versuchte,

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