Puppengrab
süß war jetzt der Geschmack der Rache. Wenn er die Kassetten mit ihren Telefonaten abspielte, konnte er die pure Panik hören, die in ihrer Stimme lag. Schon jetzt war ihre Angst zu etwas Greifbarem herangewachsen, das Tag und Nacht, Stunde für Stunde in ihr lebte. Und schon bald, wenn sie verstanden hatte, was die Puppen bedeuteten, würde sie in die Zukunft blicken und wissen, was geschah.
Dann komm … Ich bin diejenige, die du willst. Ich schreie und weine, alles, was du willst …
Chevy schloss die Augen.
O ja, genau das wirst du.
Auf dem Schild des Restaurants hatte früher einmal RON UND SALLY’S DINER gestanden, doch Rons Name war mit einer dünnen Farbschicht überdeckt worden, und dem Wort
Diner
fehlten die Vokale. Von innen machte das Restaurant einen schlichten Eindruck, und es roch nach Dünstgemüse und verkochtem Fleisch. Die Auswahl der Süßspeisen, die im Vorraum ausgestellt war, hätte selbst einer vollkommen gesunden Person zu einem Zuckerschock verholfen. Zu dieser späten Uhrzeit waren noch einige Gäste anwesend. Die meisten schienen auf der Durchreise zu sein, denn die Mehrzahl der Nummernschilder auf dem Parkplatz stammte aus anderen Bundesstaaten. Ein paar von ihnen waren jedoch wahrscheinlich Einwohner von Covington, denen die zur Alleinversorgerin verdammte Sally ihr Geschäft zu verdanken hatte.
Als Neil und Rick hereinkamen, hatten Beth und Abby bereits an einem Tisch Platz genommen. Ihnen saß eine Frau gegenüber.
»Moment. Lass uns sehen, was passiert«, sagte Neil. Rick gab einen leisen Fluch von sich.
»Du glaubst wohl, sie unterhält sich mit ihrer Freundin, hat plötzlich die große Erkenntnis und kommt zu dir gerannt, damit du sie vor allem Bösen beschützt? Vergiss es, Neil. Diese Frau verfolgt einen Plan, und du spielst dabei keine Rolle.«
»Ich habe Hunger«, brummte Neil. »Behalten wir die beiden im Auge.«
Dreißig Minuten später hatte Abby den Kopf in Beths Schoß gelegt und döste. Auch wenn sie ab und zu ein Gähnen unterdrückte, wirkte Beth entspannt. Die beiden Frauen hatten sich unterhalten, ein paar Teller hausgemachte Gemüsesuppe gelöffelt und mit Abby gespielt. Sie hätten gut zwei Freundinnen sein können, die sich auf einen Mitternachtssnack getroffen hatten. Wenn man von dem Koffer absah, der neben dem Tisch stand, und von Heinz, der im SUV geblieben war.
Als die Frauen gezahlt hatten und in den Vorraum gingen, beugte sich Beth nach unten, um Abby zu umarmen – ganz fest.
»Mein Gott, sie verabschieden sich«, stellte Rick fest. »Wer zum Teufel ist die andere Frau?«
»Ich weiß es nicht. Ruf Billings an.«
Rick wählte bereits die Nummer. »Die fremde Frau verlässt das Restaurant mit dem Kind. Folgen Sie dem Wagen, mit dem sie weiterfahren. Rufen Sie das Kennzeichen ab, und finden Sie heraus, wer sie ist.«
»Sie nehmen Denisons Auto, Lieutenant«, sagte Billings. »Nein, Moment. Sie holen nur den Hund raus. Okay, es ist der blaue Camry. Der gehört ihr. Örtliches Kennzeichen. Ich frage es ab.«
Billings legte auf. Die Frau war weg. Abby und Heinz waren weg.
Beth verschwand auf der Damentoilette.
Nachdem sie ihr fünf Minuten Zeit gegeben hatten, sagte Rick: »Hör mal, wahrscheinlich hat sie die Waffe in ihrer Handtasche. Bist du dir wirklich sicher, dass sie vorhatte, Bankes zu töten?«
Neil riss die Augen auf. Himmel, daran hatte er nie gedacht. Würde Beth sich etwas antun? Er lief in Richtung Damentoilette.
»Warte«, warnte Rick ihn. »Sie ist erschöpft und verängstigt, und vielleicht hat sie gerade eine geladene Waffe in der Hand.« Rick zeigte einer Kellnerin mit blauem Lidschatten, die gerade vorbeikam, seine Dienstmarke. »Sorgen Sie dafür, dass niemand die Damentoilette betritt, Miss. Und sprechen Sie mit niemandem darüber.«
Das Mädchen nickte mit weit aufgerissenen Augen. Rick und Neil betraten die Toilette mit gezogenen Waffen.
Weinen. Ein herzzerreißendes Schluchzen war aus der Kabine in der Ecke zu hören. Die Tür war geschlossen. Rasch überprüfte Rick die beiden anderen Kabinen, um sicherzugehen, dass sie leer waren. Dann lehnte er sich gegen das Waschbecken. Eine Geste, die deutlich sagte:
Sie gehört ganz dir, Kumpel.
Neil kauerte sich hin. Er konnte erkennen, dass Beth mit dem Rücken gegen die Wand auf dem Boden hockte und die Beine angezogen hatte. Neil erhob sich. Auf der Damentoilette unter die Tür einer Kabine zu spähen kam ihm schamlos vor – egal, was der Anlass dafür war.
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