Puppenspiele
anderen, dieser brennende Phantomschmerz, wenn du verlassen wirst, und es sich so anfühlt, als sei dir ein wichtiges Organ oder ein Arm oder ein Bein amputiert worden, und du kannst keinen Schritt ohne mehr machen, dich nicht mehr bewegen, nicht mal mehr eine Gabel halten, um etwas zu essen, wobei Essen sowieso völlig unnötig wird, weil du ja keinen Lebenswillen mehr hast und deinen Körper nicht mehr spürst, nicht mehr spüren willst vor lauter Herzschmerz und …«
Karen hob abwehrend beide Hände und lachte: »Okay, ich hab’s verstanden! Ist ja ekelhaft! Wer will das denn?«
Die beiden räumten gemeinsam den Tisch ab, nahmen den restlichen Rotwein und ihre Gläser und gingen nach nebenan ins Wohnzimmer. Beiläufig fragte Anna: »Wie heißt denn dein belgischer Wunderknabe?«
»Julien Offray.«
Anna stellte ihr Weinglas, das sie gerade an die Lippen hatte heben wollen, mit einem solchen Ruck auf der Tischplatte ab, dass etwas überschwappte. Sie starrte Karen fassungslos an.
»Was schaust du denn so? Kennst du jemanden, der so heißt? Hattest du mal was mit ihm?« Karen lachte.
»Julien Offray de la Mettrie«, flüsterte Anna. »Französischer Philosoph des 18. Jahrhunderts.«
»Wenn mein Julien so alt wäre, würde ich bestimmt nicht mit ihm ausgehen.«
»Du verstehst nicht. De la Mettries Hauptschrift hieß ›L’homme machine‹. Der Mensch als Maschine. Hast du eine Telefonnummer von diesem Julien? Eine Handynummer, über die man ihn orten könnte?«
Karen wischte mit einem Papiertaschentuch die Rotweinpfütze von Annas Wohnzimmertisch. »Nein. Wie schon gesagt, wir mailen. Und ich verstehe absolut nicht, wovon du redest.«
Da Karen ein paar Tage verreist gewesen war, kannte sie weder die aktuelle Entwicklung des Falles noch das vorläufige Täterprofil. Anna stockte fast der Atem. Ihr fiel die SMS ein, die Christian von dem Mörder bekommen hatte. Dass er in die Nähe kommen würde. Näher, als ihnen allen lieb sein würde. Hatte er Karen gemeint?
»Ich muss dich etwas Wichtiges fragen, Karen. Was weißt du von deinem Vater?«
»Nichts. Wieso?«
»Bist du in-vitro gezeugt worden?«
Karen sah erstaunt über den Rand ihres Weinglases: »Wie kommst du darauf? Das weiß keiner außer mir. Abgesehen von meiner Mutter natürlich, aber die ist vor Jahren verstorben. Ich rede nie darüber, weil du dir vorstellen kannst, wie meine schandmäuligen Kollegen … Verdammt noch mal, sagst du mir jetzt, was los ist, Anna?«
Anna war aufgestanden und kramte hektisch in einem Stapel von Akten, der neben dem Sofa auf dem Boden lag. Aufgeregt hielt sie Karen eine Kopie von der Zeichnung, die Liesel Stamminger in Tübingen angefertigt hatte, unter die Nase: »Ist das Julien Offray? Haben die beiden auch nur entfernte Ähnlichkeit miteinander?«
Anna vermutete, dass Karen das Phantombild nicht kannte. Karen beschäftigte sich eingehend mit Leichen, besah sich auch Tatorte und Tatwaffen. Aber nicht unbedingt jedes Asservat oder sonstiges Ermittlungsmaterial. Das gehörte weder zu ihren Aufgaben, noch hatte sie die Zeit dazu. Karen nahm die Zeichnung in die Hand und betrachtete sie eingehend. »Der Kerl hier ist blond und blauäugig. Julien hat sehr dunkle Haare, fast schwarz. Und grüne Augen. Aber er ist es. Ganz eindeutig. Scheiße noch mal. Kannst du mich bitte endlich aufklären, was hier gespielt wird?«
Anna erzählte Karen von Petra Rahnbergs Blitzreise nach München und Straßburg. Sie erzählte von Haltern am See und Christians Besuch bei »Living Angels«. Und sie berichtete von der bedrohlichen Nachricht, die Christian auf seinem Handy erhalten hatte.
Karen wirkte schockiert: »Ich bin in Australien geboren und aufgewachsen. Die ersten fünf Jahre ohne Vater. Dann hat meine Mutter in Sydney einen Deutschen geheiratet, der mich adoptierte. Deswegen heiße ich mit Nachnamen Kretschmer. Meine Mutter hieß Isabelle Brandauer. Sie ist leider viel zu früh gestorben. Brustkrebs. Erst auf dem Sterbebett hat sie mir erzählt, wie ich gezeugt wurde. Bei ›Living Angels‹ in München. Sie hatte Samen von irgendeinem Nobelpreisträger bestellt. Mein Aussehen habe ich angeblich von meiner Mama. Mein hoher IQ ist wohl eine saubere Mischung aus beiden.«
»Du bleibst heute Nacht hier«, sagte Anna. »Du wirst keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen.«
»Den Teufel werd ich tun! Ich will nach Hause!«
»Keine Widerrede, Karen. Ich rufe jetzt zuerst Volker an, damit der auch hier pennt. Er kommt gleich
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