Puppenspiele
Ihre wenigen, übrig gebliebenen Kontakte pflegte sie inzwischen fast nur noch per Mail oder Telefon. Karen hingegen hatte Kontakte noch nie sonderlich gepflegt. Zwar kannte sie jede Menge Menschen, doch waren es fast ausschließlich Männer, mit denen sie selten mehr als eine unverbindliche Affäre einging. Überhaupt schien Unverbindlichkeit ein entscheidender Wesenszug von Karen zu sein, der gerade Frauen davor zurückschrecken ließ, ihre Freundschaft zu suchen. Anna und sie jedoch hatten sich langsam, geradezu unbeabsichtigt angenähert. Die Voraussetzung für diese Annäherung war das Nicht-Suchen, das Nicht-Brauchen und das Nicht-Fordern gewesen, sodass zwischen ihnen mit fast mathematischer Zwangsläufigkeit aus dem Negativen etwas Positives entstand.
Vor dem Essen hatte Anna Karens Pariser Einkäufe gewürdigt: Schuhe, Shirts, Schuhe, Hosen, Schuhe und einen Kurzmantel. Inzwischen waren sie beim Thema Männer angelangt. Karen gewährte Anna ein paar kleine Einblicke in ihren neuesten Flirt, den sie vor ein paar Tagen in der Hotelbar in Straßburg kennengelernt hatte. Es war das erste Mal und ein großes Privileg, dass Karen Anna etwas Derartiges anvertraute. Anna wusste, dass die Ärzte in der Rechtsmedizin und auch ein Großteil der Kriminalbeamten, die regelmäßig mit ihr zu tun hatten, mit großer Phantasie über Karens erotische Gepflogenheiten rätselten. Ihre Kollegen schwelgten geradezu lüstern in ihren Mutmaßungen, mit denen sie nichts als ihre eigenen Sehnsüchte beschrieben. Vor Jahren war Karen eines Nachts im Putzmittelraum der Rechtsmedizin mit einem Studenten beim leidenschaftlichen Austausch von Körperflüssigkeiten ertappt worden. Damals verstummten die Vermutungen der Erfolglosen, Karen wäre eine Lesbe. Seitdem sickerte über ihr Liebesleben nichts mehr an die kollegiale Öffentlichkeit durch, was die Auswüchse der Phantasien nur noch mehr wuchern ließ. Würde man den Gerüchten glauben schenken, hätte Karen vor lauter Sex mit den unterschiedlichsten Männern, an den unterschiedlichsten Orten und in den unterschiedlichsten Positionen nur schwerlich noch Zeit gehabt, ihren Beruf auszuüben.
Tatsächlich war, wie so oft, eher das Gegenteil der Fall. Karen mochte Männer und mochte Sex. Doch fiel es ihr schwer, eine Beziehung aufzubauen. Die Zeiten, in denen sie hemmungs- und gedankenlos herumgevögelt hatte, waren vorbei. Nun gewann sie mehr und mehr den Eindruck, dass die Männer sie zwar als äußerst begehrenswerte Trophäe betrachteten, aber genau deswegen aus Angst vor dem mutmaßlichen Scheitern schon im Vorwege kapitulierten und nicht nur sprichwörtlich den Schwanz einkniffen. Der Typ in Straßburg jedoch hatte sich von ihrem perfekten Äußeren und ihrem sicheren Auftreten nicht einschüchtern lassen. Er war ihr auch nicht dumm-dreist gekommen wie die meisten der Männer, die ihren Mut, sie anzusprechen, lediglich aus einer völlig falschen Einschätzung ihrer eigenen Attraktivität generierten. Die Feiglinge strafte Karen mit Verachtung, die Aufdringlichen mit Hohn und Spott.
»Und der Typ in Straßburg? Ein Franzose?«, fragte Anna interessiert.
»Belgier. Er arbeitet als Lobbyist für eine internationale Firma, die in ganz Europa Container-Terminals baut und hatte in Straßburg ein paar Termine mit EU-Abgeordneten. Der Abend mit ihm war äußerst unterhaltsam. Einen Tag später ist er mir für ein Date nach Paris gefolgt. Schmeichelhaft, oder?«
»Es gibt jede Menge Männer, die würden dir bis nach Feuerland nachreisen!«
»Aber Sie tun’s nicht! Julien hat es getan. Wir waren essen, führten wunderbare Gespräche, flirteten ein bisschen. Mehr nicht. Er besitzt Stil, lässt sich Zeit. Wir mailen hin und wieder. Demnächst hat er geschäftlich in Hamburg zu tun. Dann will er mich besuchen.«
»Bist du verliebt?«
»Verliebt? Keine Ahnung. War ich das jemals? Wenn ich einen Mann treffe, der mir gefällt, dann will ich Zeit mit ihm verbringen. Ich will mit ihm schlafen. Wenn es besonders gut läuft, will ich sogar neben ihm aufwachen. Aber Liebe? Ich hatte noch nie richtigen Liebeskummer. Vielleicht, weil ich noch nie richtig geliebt habe. Was meint die Psychologin dazu?«
Anna lächelte: »Ich bin mir nicht sicher, ob die Erfahrung von Liebeskummer lebensnotwendig ist oder zur Bildung des Charakters beiträgt. Ich jedenfalls habe mir schon oft gewünscht, ohne auszukommen. Dieses entsetzliche Gefühl, nicht mehr leben zu wollen, nicht mehr leben zu können ohne den
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