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Puppenspiele

Puppenspiele

Titel: Puppenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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häufig sie zur Toilette ging, und außerdem hören, ob sie im Schlaf regelmäßig atmete oder schnarchte oder gar leise in erotischen Träumen stöhnte. Diese Vorstellung war ihr mehr als zuwider. Fast wünschte sie, der angebliche Julien Offray würde endlich zuschlagen und sie mitnehmen, heraus aus dieser Zwangssituation und hinein in eine andere, eine private, die den Vorteil hätte, nur einem Paar Augen und Ohren ausgeliefert zu sein statt gefühlten Tausenden. Die Vision von der Zweisamkeit mit ihrem Mörder besaß fast etwas beruhigend Intimes.
    Christian hatte ihr genau das prophezeit. Sie würde wie viele andere, die unter Personenschutz standen, früher oder später an einen Punkt kommen, an dem sie sich heimlich die Verkabelung vom Leib reißen und irgendetwas Verrücktes tun wollte. Etwa nachts aus dem Badezimmerfenster klettern, um den Aufpassern zu entkommen und sich wenigstens für ein, zwei Minuten wie ein freier Mensch zu fühlen und nicht wie eine Laborratte. Diese ein, zwei Minuten jedoch konnten über Leben und Tod entscheiden. Christian hatte sie gebeten, auf die Zeichen einer drohenden Dummheit zu achten und ihm rechtzeitig Bescheid zu geben. Dann würden er, Volker und Herd für einen von ihr gewünschten Zeitraum persönlich und exklusiv ihre Überwachung übernehmen, damit sie wenigstens Freunde um sich hatte, statt fremder Beamte, deren unsichtbare Anwesenheit sie als Belastung empfand.
    Karen versuchte, sich abzulenken. Es gelang ihr nur halbwegs. Bei der Arbeit ließ sie sonst keinerlei Unaufmerksamkeit am Obduktionstisch zu. Nun stellte sie fest, dass ihre Gedanken abdrifteten. Karen war von sich selbst überrascht, pflegte sie doch sonst mühelos den Ruf einer nicht zu erschütternden Eisente. Nun zeigte sie Nerven. Deswegen gab sie am Vortag die Leitung der vorzunehmenden Obduktionen an ihren Assistenten ab, bis ihr Kopf wieder frei war von privaten Belangen.
    Als ihre Mutter Isabelle ihr auf dem Sterbebett von der In-vitro-Fertilisation erzählt hatte, war ihr klar gewesen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwo auf der Welt noch andere Menschen lebten, die vom gleichen Samenspender wie sie abstammten. Aber da dieser Gedanke niemals bebildert wurde, ließ sie ihn wieder fallen und vergaß ihn schließlich. Nun aber gab es Gesichter. Es gab Namen, Lebensläufe, Schicksale. Nun besaß Karen, Einzelkind seit ihrer Geburt und Vollwaise seit dem siebzehnten Lebensjahr, plötzlich eine Familie. Als Kind hatte sie sich oft Geschwister gewünscht: einen Bruder, mit dem sie um die Wette gelaufen, geschwommen und getaucht wäre. Oder eine Schwester, mit der sie über Jungs hätte reden können. Jetzt hatte sie eine Schwester. Die zehnjährige Jenny Jacob lebte noch.
    Karen grübelte immer wieder darüber nach, ob ihr Bedürfnis nach Kontakt Sinn machte. Oder ob sie damit nur alte, längst begrabene Sehnsüchte nach Zugehörigkeit schürte. Sie hatte sich ihr Leben in relativer Bindungslosigkeit eingerichtet und war bislang von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugt gewesen. Nun spürte sie erstmals wieder andere Impulse. Sie würde Jenny gerne kennenlernen. Und sie wollte den Mann treffen, der ihr durch seine brutalen Morde unverhofft eine Familie geschenkt und sofort wieder genommen hatte. Karen wollte ihre toten Halbschwestern rächen. Nur deshalb hielt sie durch und gehorchte Christians Anweisungen.
    Am frühen Nachmittag wurde sie von Volker aus der Rechtsmedizin abgeholt, der ihren Aufpasser bei der Arbeit ablöste. Karen hatte ihren Dienst schon um fünf Uhr in der Früh begonnen. Die halb verweste Leiche einer alten Frau war gefunden worden. Die Witwe hatte seit Wochen tot in ihrer Wohnung gelegen, bis sich die Nachbarn über die Geruchsbelästigung beschwerten. Danach landete ein junger Fixer auf ihrem Tisch, der auf einer Kneipentoilette an einer Überdosis krepiert war. Es war in beiden Fällen kein Problem gewesen, die Todesursache zu bestimmen. Dennoch war Karen erschöpft. Volker schlug einen Spaziergang im Stadtpark vor.
    Die Sonne schien warm vom blitzblauen Spätsommerhimmel. Auf den sattgrünen Wiesen saßen Grüppchen von jungen Leuten, die ihren Grill neben den Bierkästen aufbauten. Andere spielten Fußball, warfen Bälle für ihre Hunde oder ließen Drachen steigen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte Karen sich, warum sie einen Beruf gewählt hatte, in dem sie sich ausschließlich mit toter Materie beschäftigte. Still und in sich gekehrt

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