Puppenspiele
wandte er sich mit mulmigem Gefühl dem Trio zu, das ihn von Karen abgelenkt hatte.
Seine böse Vorahnung bestätigte sich schnell: Die Straßenschlägerei war inszeniert gewesen. Irgendein TV-Redakteur hatte am nahe gelegenen S-Bahnhof schon am Tag zuvor die beiden gelangweilt herumhängenden Jugendlichen angesprochen. Den älteren Mann hatte er mit einem Sixpack vor einem Obdachlosenasyl »gecastet«. Angeblich wollte er einen möglichst realistischen Beitrag über Zivilcourage drehen: Wer hilft einem bedrohten Mann unter Gefahr für das eigene Leben? Seine Laiendarsteller hatten seit Stunden auf der Straße vor Karens Haus herumgelungert und sich gewundert, warum der Regisseur so ewig lange wartete, bis er »Action« rief. Dann aber spielten sie mit vollem Einsatz. Nun verlangten sie stolz ihre versprochene Gage von dem vermeintlichen Fernsehteam. Volker hätte vor Wut heulen können. Er war blind auf eine Variante von Christians gescheitertem Planspiel hereingefallen. Niklas Schmitt hatte die Strategie der Soko Bund durchschaut und gegen sie gewendet. Er hatte punktgenau vor der täglichen Wachablösung zugeschlagen und eine inszenierte Lücke in Karens Bewachung gerissen. Nun befand sich Karen in seiner Gewalt. Und er, Volker, war schuld.
München.
Christian erhielt di e niederschmetternde Nachricht von Karens Entführung, als er in München gemeinsam mit Oberstaatsanwältin Zeiner Professor Svensson vernahm. Volker selbst rief ihn an. Er klang, als würde er sich am liebsten besinnungslos besaufen wollen vor lauter Schuldgefühlen. Christian war so schockiert, dass er Volker wütend anbrüllte, um Dampf abzulassen. Volker wehrte sich mit keinem Wort. Schließlich entschuldigte sich Christian bei seinem Freund. Er wäre vermutlich auch auf die Scharade hereingefallen. Sie hatten ihren Gegner unterschätzt. Christian legte auf und versuchte die Nerven zu behalten. Er wusste, dass Volker wie auch Herd, Daniel und die anderen Kollegen in Hamburg alles nur erdenklich Mögliche taten, um Karen so schnell wie möglich zu finden. Das Einzige, was er von München aus beitragen konnte, war Informationsbeschaffung.
Er ging wieder zum Vernehmungsraum und nahm Staatsanwältin Zeiner beiseite. Mit knappen Worten setzte er sie über die Neuigkeiten in Kenntnis und bat um ein paar Minuten allein mit Svensson. Zeiner sah in seinen Augen, dass es unter den gegebenen Umständen besser war, Christian ohne juristische Spitzfindigkeiten etwas Spielraum zu geben. Sie ging hinaus, um mit ihrem Büro zu telefonieren. Christian bearbeitete Svensson mit möglichen und unmöglichen Drohungen, damit er endlich den Mund aufmachte. Seine Nerven lagen blank. Am liebsten hätte er die gewünschten Informationen aus Svensson herausgeprügelt. Erst als der Professor von dem neuen Entführungsfall hörte, schien in ihm etwas in Bewegung zu geraten. Er räumte ein, auch Isabelle Brandauer behandelt zu haben. Da er ihr Kind aber nicht für gefährdet hielt, weil Frau Brandauer schon in der Schwangerschaft nach Australien ausgewandert war, hatte er die Information aus Datenschutzgründen für sich behalten. Svensson sprach den Namen Karen Kretschmer mehrfach leise hintereinander aus. Dann sagte er: »Fragen Sie Clarissa Wedekind.« Nach diesem Satz schien Svensson in eine Art nostalgische Katatonie zu verfallen und brummelte nur noch abwesend von seinen ehemaligen idealistischen Plänen, den menschlichen Genpool zu verbessern.
Christian überlegte kurz. Clarissa Wedekind würde ihm kaum freiwillig erklären, in welchem Zusammenhang sie mit den Geschehnissen stand. Schon gar nicht am Telefon. Er musste nach Düsseldorf, auch wenn er am liebsten nach Hause geflogen wäre. Doch er musste die Suche nach Karen auf anderem Wege unterstützen. Denn Wedekind hielt wertvolle Informationen zurück, da war er sicher. Seine Nachforschungen bei der Düsseldorfer Polizei hatten ihr einen untadeligen Leumund geliefert. Selbst Daniel war nicht fündig geworden. Clarissa Wedekind war ein äußerst nützliches Mitglied der Gesellschaft, ihre Weste blütenweiß. Um diese Frau emotional zu knacken, falls das überhaupt möglich war, brauchte Christian Hilfe. Er führte ein kurzes Telefonat. Dann verabschiedete er sich dankend von Frau Zeiner und ihrem Mann. Kommissar Zeiner drückte Christian in stummem Mitgefühl die Hand.
Düsseldorf.
Zu Christians Erleichterung hatten die Flugpläne der Lufthansa mitgespielt. Die Maschine aus Stuttgart kam fast gleichzeitig
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