Puppentod
etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Er drehte sich um und ging fort, ließ seinen Vater einfach stehen. Ihm war unwohl dabei, doch er tat es.
»Ich hoffe, sie ist wenigstens aus gutem Hause«, schrie sein Vater ihm wütend und in einer solchen Lautstärke hinterher, dass alle Mitarbeiter in ihren Büros es mit Sicherheit hörten. Seinem Vater war nichts peinlich.
Erhobenen Hauptes marschierte Michael den langen Flur entlang, lief eilig die Treppe hinunter, durch den Empfangsbereich hindurch. Er war sehr erleichtert, als er endlich in seinem Wagen saß.
Mit einer halben Stunde Verspätung klopfte er an Lisas Appartement. Als sie kurz darauf öffnete, stammelte er ohne Punkt und Komma all die Entschuldigungen, die er sich während der Fahrt zurechtgelegt hatte - bis er registrierte, dass Lisa im Bademantel, mit nassen Haaren und einem Föhn in der Hand vor ihm stand.
»Ich bin sehr froh, dass du dich verspätet hast«, sagte sie. »Wärst du pünktlich gewesen, hättest du mich aus dem Bett geholt.«
Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
»Ich habe verschlafen«, erzählte sie, während sie wieder im Bad verschwand und ihm von dort aus zurief: »Um acht Uhr war ich einmal wach, bin aber dann wieder tief und fest eingeschlafen. Die Zeitverschiebung. Willst du Tee? Nimm dir welchen. Er steht in der Küche.«
»Nein, danke«, rief Michael zurück, setzte sich an den Tisch und starrte den Stapel Umzugskartons an. Es schien, als seien seit gestern Abend noch einige hinzugekommen. Fünf Kisten, in denen Lisa ihr Leben verpackt
hatte, oder zumindest das, was sich davon noch in Deutschland befand. Das meiste war bestimmt schon in der Karibik.
Plötzlich stand sie vor ihm.
»Fertig«, sagte sie.
Bei ihrem Anblick blieb ihm fast der Mund offen stehen, so umwerfend sah sie aus. Schon in Jeans und Pullover war sie die schönste Frau der Welt, aber jetzt, in diesem langen, schwarzen Wollkleid und dem Hauch Rot auf ihren Lippen, war sie die Verführung in Person.
»Du siehst toll aus«, sagte er unbeholfen, woraufhin sie den Blick senkte und mit den Fingerspitzen flüchtig den Anhänger ihrer Kette berührte, dieses fein gearbeitete goldene Kreuz.
»Wollen wir gehen?«, fragte sie und zog sich ihre kurze Jacke an.
»Darin wirst du erfrieren«, rief Michael erschrocken.
Sie lächelte unbekümmert. »So schlimm wird es hoffentlich nicht werden, denn ich habe keine andere. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es in Deutschland immer noch so kalt ist. Wenn man jeden Tag dreißig Grad im Schatten hat, vergisst man, wie sich fünf Grad unter null anfühlen.« Sie hängte sich ihre braune Leinentasche schräg über die Schulter, öffnete die Tür und fügte hinzu: »Außerdem wollte ich mir nicht extra einen Mantel kaufen. Schließlich bin ich nur noch ein paar Tage hier. Was soll ich denn in der Karibik damit anfangen?«
Zum Mittagessen fuhr Michael mit Lisa in die Villa am See , ein kleines, aber feines Restaurant in einem herrschaftlichen Gebäude. Dort konnte man im Musiksalon oder im Kaminzimmer nicht nur exzellent speisen, sondern auch die besondere Atmosphäre genießen.
Im Kaminzimmer, direkt am Fenster, hatte Michael einen Tisch reserviert, weil von hier die Aussicht auf den See am schönsten war. Nur hingen heute leider die dunklen Wolken so tief, dass Wasser und Himmel freudlos und grau wirkten.
Doch Michael malte Lisa in bunten Farben aus, wie schön der See war, wenn die Sonne schien. Er schwärmte ihr so sehr davon vor, dass Lisa kaum dazukam, einen Blick in die Speisekarte zu werfen.
»Sobald die ersten Sonnenstrahlen da sind, lasse ich mein Boot ins Wasser«, erzählte er ihr. »Es ist eine zwölf Meter lange Motoryacht. Sie ist superschnell. Du hättest deinen Spaß daran. Du kannst solche Boote fahren, nicht wahr?« Diese Frage war überflüssig, denn das hatte er in der Karibik gesehen.
Sie nickte. »Ja, das kann ich …«, sagte sie, während sie an ihm vorbei aus dem Fenster starrte, als hätte sie dort einen Geist gesehen. Erstaunt drehte Michael sich um und blickte ebenfalls hinaus, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken.
Der Kellner kam, um die Bestellung entgegenzunehmen. Da sie sich für Fisch entschieden hatten, empfahl er dazu einen trockenen Riesling.
»Sollen wir ihn probieren?«, fragte Michael.
»Ich trinke keinen Alkohol«, entgegnete Lisa.
Verblüfft sah er sie an und bestellte eine Flasche Wasser. Nachdem der Kellner gegangen war, fragte er irritiert: »Haben
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