Puppentod
alle gelesen?«, fragte sie.
»Nicht alle.« Er nahm einen großen Schluck, setzte sich zurück in den Schreibtischsessel und beobachtete sie.
In einem seiner Schlafanzüge stand sie vor dem Regal, das bis unter die Decke reichte, und hielt den Kopf schief, um die Buchtitel besser lesen zu können.
Dann zeigte sie auf eine sehr wertvolle Raymond-Chandler-Reihe. »Magst du diese hier am liebsten?«
»Weil sie so aussehen, als hätte ich sie schon oft in der Hand gehabt?«, entgegnete er amüsiert und erzählte ihr, dass er diese Sonderedition aus dem Jahr 1960 in einem Antiquariat in New York erstanden hatte.
Das schien Lisa aber nicht sehr zu beeindrucken.
»Was liest du gern?«, fragte er sie.
Sie zuckte ratlos mit den Schultern. »Sehr viel habe ich noch nicht gelesen. Aber Bücher interessieren mich. Ich habe es zum Beispiel sehr gern, wenn mir jemand vorliest. Das hat meine Mutter immer getan. Würdest du mir etwas vorlesen?«
»Jetzt?« Michael zögerte. Für den ersten Abend nach Lisas Einzug hatte er eigentlich eine andere Beschäftigung ins Auge gefasst.
Doch Lisa machte es sich bereits auf dem Sofa gemütlich und kuschelte sich in die dicken Kissen.
Also gut, dachte er. Warum nicht? Für wilden Sex hatten sie noch ein ganzes Leben lang Zeit, das musste nicht unbedingt heute Abend sein.
Er entschied sich für einen Krimi, den er als sehr spannend in Erinnerung hatte. Doch bereits auf Seite vier war Lisa tief und fest eingeschlafen.
Krimis schienen nicht ihr Fall zu sein. Dabei war das Buch wirklich sehr gut. Er sollte es wieder einmal lesen.
Jetzt aber legte er es beiseite und stupste Lisa an. Als sie keine Reaktion zeigte, hob er sie vorsichtig vom Sofa auf und trug sie ins Bett. Dort deckte er sie liebevoll zu, gab ihr einen Gutenachtkuss und ließ sie ruhig und friedlich weiterschlafen.
Mitten in der Nacht wurde Michael wach und sah auf das rot erleuchtete Display seines Radioweckers. Es zeigte drei Uhr dreißig an.
Er machte Licht und drehte sich zu Lisa um. Sie warf sich unruhig hin und her und schien so intensiv zu träumen, dass sich auf ihrer Stirn kleine Schweißperlen gebildet hatten. Sanft strich er ihr über den Arm und flüsterte ihren Namen.
Er wollte sie nicht wecken, doch er wollte sie aus diesem Traum befreien. Aber sie reagierte nicht.
Er versuchte es noch einmal. Ohne Erfolg. Im Gegenteil. Sie glitt immer tiefer in die Traumwelt hinab und wimmerte wie ein ängstliches Kind. Und sie redete im Schlaf. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, doch sie schien panische Angst zu haben.
Er versuchte, sie zu wecken, und tatsächlich schlug sie die Augen auf. Aber sie sah ihn nicht an, sondern durch
ihn hindurch. Sie war nicht wach und schlief auch nicht mehr. Sie war im Niemandsland, in dem Land zwischen den Welten, auf der dunklen Brücke zwischen Bewusstsein und Unbewusstem.
Michael nahm sie in den Arm. Sie fing an zu weinen, und er strich ihr beruhigend übers Haar.
»Sie lassen mich einfach hier allein«, schluchzte sie.
»Ich werde dich nicht alleinlassen«, sagte er leise. »Ich bin bei dir. Es wird dir nichts geschehen.«
Sie zitterte und drückte sich in seine Arme, als wäre dies der einzige Ort, an dem ihr nichts passieren konnte. Er hielt sie ganz fest. Sie sollte spüren, dass sie keine Angst mehr haben musste. Von nun an war er da, um sie zu beschützen. Dann würde dieser Traum vielleicht seine Macht über sie verlieren.
4
Lisa stand am Ufer des Sees neben der riesigen Trauerweide und sog die kühle Morgenluft ein. Der Tag erwachte gerade, und die ersten Lichtstrahlen überzogen behutsam den Horizont.
Sie schaute auf das Wasser und versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Herz raste noch immer. Deshalb zwang sie sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Die Bilder der Nacht wollten ihren Kopf nicht freigeben. Doch sie durfte nicht zulassen, dass die Träume sie bis in den Tag hinein verfolgten. Dann beherrschte die Angst ihren Körper und lähmte jeden einzelnen Muskel. Davor musste
sie sich schützen. Auch vor ihm musste sie sich schützen . Das wusste sie seit heute Nacht.
Geborgenheit war ein schönes Gefühl. Daran durfte sie sich nicht gewöhnen. Auch nicht an seine Zärtlichkeiten, seine Wärme, seine Liebe. Das gefährdete den Plan.
Sie stellte sich auf, um mit ihren Übungen zu beginnen, atmete tief in den Bauch hinein und langsam wieder aus. Sie musste ihren Kopf freikriegen. Sie musste sich konzentrieren!
Wenn du dich nicht konzentrieren kannst, wird
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