Puppentod
dein Schlag nicht die Kraft haben, den anderen zu töten - so hatte ihr Lehrer Yoshitoki es sie gelehrt. Das war eine Grundregel im japanischen Kampf.
Sie faltete die Hände vor der Brust, schloss die Augen und dachte an nichts anderes als an ihre Kraft. Dann winkelte sie das rechte Bein an und streckte es blitzschnell nach links oben aus, während ihr Körper eine halbe Drehung vollführte und ihr Fuß dabei kerzengerade die Luft durchschnitt.
Sie beherrschte diese Technik perfekt. Sie hatte sie jahrelang trainiert und konnte jeden damit schachmatt setzen. Egal wie groß oder wie stark ihr Gegner war, ihr Fuß traf immer genau den Punkt, den er treffen musste. Schneller, als der andere in der Lage war zu reagieren.
Sie sah die Sonne aufgehen. Jeder neue Tag hat nur einen Sinn: deinem Ziel ein Stück näher zu kommen!
Sie wiederholte die Übung mehrere Male, erst mit dem rechten, dann mit dem linken Fuß, und spürte, wie sich
ihr Herzschlag beruhigte. Nichts anderes zählte, als dem Ziel ein Stück näher zu kommen. Und für nichts anderes gab es in ihrem Leben einen Platz.
5
Als Michael ins Sekretariat kam, stand Harry mit einer Tasse Kaffee in der Hand vor Frau Meierhöfers Schreibtisch.
»Fahren Sie Mr Ming zum Flughafen, Harry?«, fragte er erstaunt, weil dieser wieder Uniform trug.
Harry murmelte etwas vor sich hin, was nach einer Bestätigung klang, und setzte sich in einen der Besuchersessel.
Er war wirklich ein ungehobelter Bursche, aber seinen Job als Chef der Sicherheitsabteilung machte er gut, und er war absolut loyal. Übertrieben loyal sogar. Er vergötterte Rudolf. Würde der von ihm verlangen, von einer Brücke zu springen, dann würde Harry das tun. Er war Rudolf unendlich dankbar, weil der ihn damals eingestellt hatte, obwohl so vieles gegen ihn sprach.
»Ist Mr Ming bei meinem Vater?«, erkundigte Michael sich bei Frau Meierhöfer.
Die Antwort erübrigte sich. Die zwei Geschäftsmänner kamen gerade aus Rudolfs Büro.
»Ich wollte eben zu Ihnen kommen, um mich zu verabschieden«, sagte Michael zu Mr Ming, reichte ihm die Hand und deutete eine Verbeugung an. So, wie er es in China gelernt hatte.
Mr Ming lächelte höflich. »In zwei Monaten erwarte ich Sie und Ihren Vater in Schanghai. Dann beginnen wir mit den Verhandlungen für die neue Fabrik. Bis dahin habe ich den Boden dafür geebnet.«
Das sollte ihm nicht schwerfallen, mit all den Euros im Gepäck, die das eine oder andere Verfahren beschleunigen würden. Wenn Rudolf sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann sollte ihn niemand aufhalten, erst recht nicht die chinesischen Behörden.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte Rudolf, während er sich von Frau Meierhöfer in den Mantel helfen ließ.
Erstaunt sah Michael seinen Vater an. »Fährst du mit zum Flughafen?«
»Ja. Und anschließend fährt Harry mich nach Nürnberg. Dort habe ich einen Termin.«
Nachdem die drei das Sekretariat verlassen hatten, fragte Michael Frau Meierhöfer: »Was will er denn in Nürnberg?«
Die zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Da war er neulich schon einmal, aber ich weiß nicht, warum.«
»Habe ich heute Nachmittag noch Termine?«, wollte Michael wissen, denn er plante bereits einen Besuch im Reisebüro, um die schönsten Hotels in der Dominikanischen Republik ausfindig zu machen.
»Martin Schuster vom Labor hat angerufen«, erwiderte Frau Meierhöfer. »Er möchte Sie gern heute noch sprechen.«
Beim Namen Martin Schuster fielen Michael schlagartig seine Versäumnisse wieder ein. Nicht einen einzigen Blick hatte er bisher in die Mappe mit den Testergebnissen
geworfen, obwohl Herr Schuster ihn darum gebeten hatte.
»Er soll in einer Stunde zu mir kommen«, rief Michael der Meierhöfer zu, während er schleunigst in seinem Büro verschwand. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und holte die rote Mappe hervor.
Als Martin Schuster eine Stunde später vor ihm saß, hatte Michael sich die Testergebnisse zwar angesehen, jedoch beim besten Willen keine Unregelmäßigkeiten entdecken können. Was den Chemiker daran störte, war ihm unklar.
Martin Schuster aber legte mit ernstem Gesichtsausdruck verschiedene Testbögen aus einer anderen Mappe auf dem Schreibtisch aus und bat Michael danach, die Papiere aus der roten Mappe darunterzulegen.
Nachdem Michael das getan hatte, sortierte Martin Schuster noch etwas um, nahm einen orangefarbenen Textmarker zur Hand und begann, das Ergebnis auf dem ersten Blatt der oberen Reihe zu markieren.
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