Puppentod
Bis heute stand es auf einem ein Meter fünfzig hohen Granitsockel unter einem Glaskasten, den sein Großvater eigens hatte anfertigen lassen. In der Vitrine daneben zeugten stolze Trophäen von einstigen Siegen - Genf, Saint Tropez, Sardinien. Sein Großvater war ein Held gewesen.
Michael sah sich um. Es schien alles unverändert zu sein. Sogar die Fotos hingen noch an der Wand hinter dem Schreibtisch. Teilweise schon vergilbt und noch mit altmodischen Büttenrändern versehen, erzählten sie vom Leben seines Großvaters. Von der Hochzeit auf dem Berghof bei Kitzbühel, vom Kauf der halb verfallenen Villa am See, vom ersten Firmengebäude der Westphal-Pharmazeutika, das an eine Baracke erinnerte, und von der ersten Weihnachtsfeier mit fünf Mitarbeitern. Dazwischen immer wieder Bilder von der Albatros und seinem Enkel Michael. Michael fragte sich, weshalb all diese Bilder noch hier hingen. Wieso hatte sie niemand abgenommen und in ein Album geklebt?
Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Dieser Raum machte den Eindruck, als würde sein Großvater noch leben. Es war alles so wie immer.
Fast alles, dachte er. Denn irgendetwas fehlte. Er konnte nur nicht sagen, was.
Er drehte sich zu Lisa um, die abwartend an der Tür gestanden hatte, jetzt aber langsam auf ihn zukam. Sie bewunderte das Schiffsmodell und fragte genau das, was ihn gerade beschäftigte: »Warum lasst ihr die Sachen so einstauben? Wird hier niemals sauber gemacht?«
»Es gab vor Jahren einen blöden Vorfall«, sagte Michael und wollte ihr die Geschichte gerade erzählen, als er die Stimme seines Vaters vernahm. Erschrocken drehte er sich um. Mit grimmiger Miene stand Rudolf vor ihm.
»Was macht ihr hier?«, fragte er in scharfem Ton.
»Was sollen wir hier schon machen?« Michael bemühte sich, möglichst unbekümmert zu klingen, obwohl Rudolfs bohrender Blick in ihm ein merkwürdiges Unbehagen auslöste.
»Wie bist du hier hereingekommen?«, wollte Rudolf wissen und sah auf das Türschloss. Unweigerlich fiel auch Michaels Blick darauf, wobei er feststellte, dass der Schlüssel nicht mehr steckte.
Er konnte sich nicht entsinnen, ihn abgezogen zu haben. Deshalb benutzte er eine Notlüge: »Es war offen.«
Aber sein Vater glaubte ihm nicht, das merkte er sofort. »Ihr solltet jetzt gehen«, knurrte Rudolf mit versteinertem Gesicht.
»Wieso?«, rief Michael trotzig. »Ich möchte Lisa das Büro zeigen. Ist das verboten?«
Der Blick seines Vaters war unmissverständlich. Du machst, was ich sage, stand in diesen Augen.
Und hatte Michael noch vor wenigen Minuten beschlossen, ihm in Zukunft entschieden die Stirn zu bieten, so ergriff er nun wie ein braver Junge Lisas Hand und ging mit ihr schweigend an seinem Vater vorbei nach draußen. Dabei fühlte er sich, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Widerstand zu leisten musste er erst lernen. Das wurde ihm in diesem Augenblick bewusst.
Die Szene im Bootshaus beschäftigte ihn den ganzen Abend. Nicht nur, dass Michael sich maßlos über sich selbst ärgerte. Es gab noch andere Dinge, die ihm keine Ruhe ließen.
Wieso durfte er das Büro seines Großvaters nicht betreten? Aus welchem Grund wurde er dort hinausgeworfen? Was hatte er mit dieser alten Geschichte zu tun?
Diesen Gedanken hatte er noch nicht zu Ende gedacht, da fragte Lisa prompt: »Was ist damals eigentlich passiert?«
»Nichts Besonderes«, antwortete er. »Während eines Frühjahrsputzes beschlossen meine Mutter und Frau Beckstein, auch unten im Bootshaus sauber zu machen. Als sie mitten in der Arbeit waren, erschien plötzlich Rudolf und veranstaltete ein fürchterliches Theater. Er muss sich aufgeführt haben wie ein Verrückter und hat sie beschimpft, sie würden alles durcheinanderbringen und seine Erinnerungen zerstören.« Michael tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Als hätten die Sachen im Bootshaus ihm je etwas bedeutet. Die Geschichte jedenfalls führte zu einem solchen Ehekrach, dass meine Mutter sich scheiden lassen wollte.«
»Wie lange ist das her?«, fragte Lisa.
Er überlegte. »Ich war damals in Kalifornien und hatte gerade mit dem Praktikum begonnen. Das muss vor neun Jahren passiert sein.«
»Und seitdem war niemand mehr in diesem Raum gewesen?«
»Nein.« Frustriert stand er auf und goss sich einen Kognak ein.
Wahrscheinlich um das Thema zu wechseln, das ihm so schlechte Laune bereitete, stellte sich Lisa vor sein
Bücherregal und betrachtete interessiert die einzelnen Bände.
»Hast du die
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